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2015-07-16 Community/Diskussion/Facebook-Kritik (Löschung rückgängig gemacht wg. FF-Treffen morgen)

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+---
+format: markdown
+title: Facebook-Kritik
+...
+
+
+# Das Informationstausch-Modell
+
+Das kommerzielle Informationstausch-Modell hat schwache Vorläufer im
+Adresshandel der Telekommunikationsunternehmen oder bei den Veranstaltern
+von Gewinnspielen, aber zum ganz großen Geschäft gerät es erst im
+Internet, denn hier fließen Informationen nicht nur, sondern können auch
+gewinnbringend verarbeitet werden, vor allem, um dem Werbemodell
+zuzuspielen.
+
+Nehmen wir Facebook als prominentes Beispiel. Der Beitritt zum sozialen
+Netzwerk ist kostenlos, die Firma bietet "Community as Commodity" [77],
+Gemeinschaft, und zwar als Ware. Die Gegenleistung des Tauschhandels
+besteht seitens der Kundschaft aus der Preisgabe persönlicher
+Informationen, die in der Gemeinschaft als gewollt, ja geradezu
+exhibitionistisch-lustvoll erlebt wird.
+
+Facebook greift zu jeder Finte, die Adressbücher der Teilnehmenden
+auszulesen und sich anzueignen, um die Bekanntschaftsnetze
+auszukundschaften. Selbst das Ausscheiden aus dem Service ist faktisch
+unmöglich, die Daten bleiben weiterhin gespeichert. Das Erlösmodell
+basiert vollständig auf dem Netzwerkgedanken, Facebook-Gründer Mark
+Zuckerberg hat sehr genau verstanden, welcher Zusatznutzen aus der
+Netzanalyse zu ziehen ist.
+
+Was seine Firma tut, liest sich wie ein Strafttatbestandskatalog des
+Verstoßes gegen den Datenschutz, denn alles, was den Kämpferinnen und
+Kämpfern für die informationelle Selbstbestimmung schützenswert erschien,
+ist auch Facebook wert und teuer, und zwar buchstäblich. Der Datenschutz
+aus den 1970er Jahren ist von solchen Entwicklungen völlig überrannt
+worden.
+
+Was die Leute damals auf die Straßen und zum Aufstand gegen den Staat
+trieb, gibt man einer Firma nunmehr freiwillig. So raffiniert ist wohl
+noch keine Protestbewegung rechts überholt worden.
+
+Facebook erklärt seinen Geschäftskunden, die eigene Applikationen in
+Facebook einbauen wollen, sehr genau, wie man mit den Daten der sozialen
+Netze Geschäfte machen kann, an denen die Mutterfirma dann natürlich
+partizipiert. Zur Haupteinnahmequelle Werbung spricht Facebook sehr offen:
+"Wir hatten bei Facebook Erfolg damit, unseren Nutzern gezielte Werbung
+auf Grundlage der Informationen anzubieten, die wir über sie haben."
+Persönliche Daten werden getauscht gegen die Zielpassung von Werbung.
+
+[77] David Kreps, Community as Commodity (2008).
+     <http://www.kreps.org/papers/communityascommodity_ifip95final.pdf>
+     "[...] there is growing evidence that SNS [social networking sites]
+     and MUVE [multi-user virtual environments] are actually part of a
+     hegemonic transnational agenda of conservative venture capital which
+     reinforces hierarchies of consumption." 
+
+
+*Quelle: Das Informationstausch-Modell, S. 133f., M. Warnke, ISBN 978-3-88506-679-8, <http://www.junius-verlag.de/>*
+
+
+
+# Widerstand war zwecklos
+
+*von Hans-Christian Espérer <hc |ätt| hcesperer.org>*
+
+2082 - Die Journalistin Erica Bayer im Gespräch mit dem
+Widerstandskämpfer Marcel Salzberg anläßlich der vor dreißig Jahren
+abgeschafften »Datenkoppel« und dem damit verbundenen Zusammenbruch des
+Internets.
+
+? Herr Salzberg, Sie sind einer der wenigen Zeitzeugen. Ein Glück für
+uns, denn man hat ja damals alle Festplatten formatiert, alle
+Flash-Drives vernichtet.
+
+! Die Daten wurden vernichtet, ja. Man hatte Angst vor Viren, die
+später wieder hervortreten könnten, wenn man den alten Kram einer
+Untersuchung unterzieht. Das ist zumindest einer der Gründe.
+
+? Erinnern Sie sich noch an die Anfänge der Datenkoppel?
+
+! Ja, klar. Ich war ja damals in den besten Jahren, nicht? Also ich
+hatte ja schon früh angefangen, am "Komputer" zu hocken, so sagte man
+damals, das war so 1993 rum. Da war der Computer noch gleichberechtigt
+mit anderen Haushaltsgeräten, bis die Technik dann immer kleiner wurde.
+Die Datenkoppel kam recht spät. Ich glaube, so um 2011 rum. Vorher gab
+es diverse andere soziale Netzwerke - so nannte man sowas -, bis man
+dann irgendwann beschloß, in der "Koppel" alle zu vereinen.
+
+? Warum?
+
+! Warum man diese Netzwerke schuf? Ich weiß es nicht genau. Meine
+Vermutung ist, daß dieser ganze Netzwerkkram von Geeks und Hackern
+begonnen wurde, die einen echten Mehrwert für die Gesellschaft schaffen
+wollten, die den Leuten langweilige Arbeit abnehmen wollten. Diese
+Leute meinten es gut, aber sie merkten nicht, daß sie in Wahrheit
+unermüdlich daran arbeiteten, Werkzeuge für einen Diktator
+bereitzulegen. Wenn ich an dieser Stelle mal Paul Denton zitieren darf.
+Warum man dann die Koppel ins Leben rief? Die anderen Netzwerke hatten
+Probleme, da kam halt wieder jemand und behauptete, alles besser machen
+zu wollen. Und die Leute waren es inzwischen gewohnt, alle halbe Jahre
+in ein neues Netzwerk umzuziehen.
+
+? Wer steckte denn hinter der »Datenkoppel«? War das ein Unternehmen
+oder eine Einzelperson?
+
+! Es gab eine Person, die nannte sich »Der Protektor«. Ihren richtigen
+Namen erfuhren wir nie. Ebensowenig wußten wir, ob das Ganze ein
+Marketinggag war oder ob es diese Person wirklich gab und welche Rolle
+sie spielte.
+
+? Ist das nicht eine große Ironie, daß der vermeintliche Besitzer der
+Koppel pseudonym auftrat?
+
+! Ach was. Was sagen denn schon Namen? Die sagen fast genausowenig wie
+ein Geburtsdatum.
+
+? Aber gerade letzteres wurde doch bei der Anmeldung immer verlangt?
+Warum denn, wenn es so nichtssagend ist?
+
+! Warum verbeugt man sich vor einem König? Es ist ein Ritual. Allen
+Beteiligten wird klargemacht, wer hier das Sagen hat. Das geschah bei
+Koppel-Nutzern schon bei der Registrierung. Viele Leute glaubten,
+Widerstand zu leisten, indem sie ein falsches Geburtsdatum angaben. Wie
+sehr diese irrten. Daß diese Leute überhaupt etwas dort angaben, das
+war das Problem. Das Geburtsdatum konnte die Koppel sowieso deduzieren.
+Aber warum soll eine Firma mein Geburtsdatum wissen? Wenn ich es ihr
+ohne plausiblen Grund nenne, habe ich mich schon unterworfen. Nicht
+auch - sondern erst recht, wenn ich ein falsches Geburtsdatum angebe.
+
+? Sie fingen damals an, die Leute zu warnen.
+
+! Das ist richtig. Aber immer weniger Leute wollten mir zuhören. Ich
+glaube, viele, die einst den Staat für laxen Datenschutz kritisiert
+hatten, suchten nur Aufmerksamkeit, fühlten sich von der Gesellschaft
+nicht ernstgenommen. Als der Staat sie dann beachtete und als Firmen
+anfingen, benutzerfreundliche Software zu schreiben, die ihnen einen
+Mehrwert brachte, verstummten viele ehemals Kritische erstaunlich
+schnell. Zum Teil schlug die Stimmung sogar ins Gegenteil um. Und die
+wenigen, die noch aktiv waren, von denen forderten viele einfach nur
+mehr Datenschutz...
+
+? Der Datenschutz ist Ihnen nicht wichtig?
+
+! Doch, doch. Aber das Wort hat für mich mit der Zeit einen ganz
+negativen Beigeschmack bekommen. Der Datenschutz wurde oft als
+Ablenkung genutzt. Viele Leute konnten das Gewicht ihrer Daten gar
+nicht einschätzen. Und dann gab es immer diese schrecklichen Beispiele.
+Ohne Datenschutz würde man mehr Kleinkriminelle erwischen, zum
+Beispiel. Das war eine Argumentation der Datenschutzbefürworter,
+wohlgemerkt. Das müssen Sie sich einmal vorstellen. Und dann kam immer
+das "Totschlagargument" der personalisierten Werbung. Lassen Sie mich
+Ihnen eine persönliche Frage stellen: Würde es Sie stören, wenn Sie
+statt »normaler« personalisierte Werbung bekämen?
+
+? Also, ich glaube, Werbung würde mich so oder so stören. Zumindest in
+dieser aufdringlichen Form zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
+
+! Präzise. Für mich ist beides - nichtpersonalisierte wie
+personalisierte Werbung - gleichermaßen verachtenswert. Aber die
+personalisierte Werbung war für viele das Hauptargument gegen »soziale
+Netzwerke«, nicht nur gegen die Koppel. Und, naja, viele wollten
+Datenschutz, aber dachten unbewußt bei sich, mehr als personalisierte
+Werbung kann mir nicht passieren, und das ist ja eigentlich nicht
+schlimm. Deshalb war der Widerstand sehr schnell gebrochen.
+
+? Und die Angst, sich mit seinen Daten völlig nackig zu machen?
+
+! Naja, ignorance is bliss, Sie wissen schon. Und die Fantasie vieler
+reichte auch einfach nicht weit. Und dann war ja da dieses
+Ohnmachtsgefühl. Und, während immer mehr Leute glaubten, der
+Datenschutz sei das einzige Problem: Sie ignorierten dieses Problem
+gerne. Aber es gab ja noch viel größere Gefahren. Damals ging zum
+Beispiel der Trend mit der Zeitplanung los. Wenn Sie abends Lust auf
+ein Tennisspiel verspürten, sagten Sie nur der Koppel Bescheid. Die
+Koppel wußte um Ihre Finanzen. Sie suchte einen Tennisplatz heraus, den
+Sie sich leisten konnten. Die Koppel wußte, ob Sie ein Auto besaßen.
+Falls nicht, stellte sie sicher, daß der Tennisplatz per ÖPNV
+erreichbar war. Die Koppel wußte, welche Ihrer Freunde ebenfalls Tennis
+spielten. Die Koppel lud diejenigen Freunde ein, die Ihnen ebenbürtige
+Gegner sein würden. So wurde der Spielspaß maximiert. Fast keiner sah
+da ein Problem.
+
+? Das klingt ja auch nicht nach einem Problem. Das klingt nach einem
+echten Mehrwert.
+
+! Ein riesengroßer Mehrwert! Nur den Preis, den sahen viele nicht. Der
+Preis war, daß alle sozialen Ereignisse plötzlich von einem nebulösen
+Unternehmen zentral gesteuert wurden! Auf der ganzen Erde! Und was
+glauben Sie, wenn einer vom Netzwerk bestraft werden sollte, dann wurde
+er einfach nicht mehr eingeladen. Und durfte auch nicht mehr einladen.
+Und die Leute waren genervt, wenn man sie »manuell« einlud, weil das
+dann nicht in ihren Koppel-Kalendern berücksichtigt war. Plötzlich
+hatte man nicht nur Angst, gegen die mehr oder weniger demokratisch
+legitimierten Gesetze des eigenen Landes zu verstoßen. Noch größere
+Angst hatte man aber davor, gegen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen
+einer Firma zu verstoßen, denn dies hätte im Extremfall zur kompletten
+Vereinsamung führen können.
+
+? Und traf das viele Leute?
+
+! Immer mehr. Auch offizielle Veranstaltungen wurden immer öfter über
+die Koppel organisiert. Irgendwann konnte man in seinen Koppel-Kalender
+keine »normalen« Events mehr eintragen - dadurch zwang die Koppel
+einen, alles, was man im Koppel-Kalender haben wollte, über diese
+Plattform zu organisieren. Viele Handys unterstützten nur noch den
+KoppelKalender. Wer also sein Handy zur Terminplanung nutzen wollte,
+mußte dies oftmals zwangsläufig komplett über die Koppel machen.
+
+? Gab es keine Leute, die sich trotz alldem noch »manuell« verabredet
+haben?
+
+! Sicher, einige Zeit schon.
+
+? Das hat doch die Koppel sicher gestört, wenn sie so machtbesessen
+war, wie Sie behaupten.
+
+! Naja, das waren ja wenige. Und die galten auch als wahnsinnig
+rückschrittlich. Man ist ihnen oft mit großer Aggression begegnet. Ich
+erinnere mich noch an einen Bekannten, den ich mal im Zug kennenlernte
+- Kalle hieß er, glaube ich -, der hat mich einen Lügner genannt, als
+ich ihm sagte, ich habe keinen Koppel-Account. Verstehen Sie, der hat
+geglaubt, ich hätte Angst vor ihm oder wolle seine Freundschaft nicht.
+Weil es in sein Weltbild nicht paßte, keinen Koppel-Account zu haben.
+
+? Hat denn die Koppel überhaupt auf die »Manuellen« reagiert?
+
+! Die Koppel hat nicht direkt darauf reagiert. Man hat nur irgendwann
+die sogenannten »freiwilligen Hausarreste« eingeführt.
+
+? Was war das?
+
+! Man konnte mit seinem Handy über Bilderkennung Leute »scannen«. Man
+sah dann, ob sich jemand unter Hausarrest befand. Die Koppel hatte
+irgendwann eine Funktion, die nannte sich »I Hate«. Wenn fünfzig Leute
+eine Person »hateten«, so nannte man das, dann stellte die Koppel diese
+gehatete Person für eine Woche unter Hausarrest.
+
+? Diese Hausarreste konnte man doch aber getrost ignorieren.
+
+! (lacht) Na klar, von Gesetzes wegen. Aber viele akzeptierten das.
+Unterschätzen Sie niemals die gesellschaftlichen Zwänge. Der Druck,
+sich einem Koppel-Hausarrest zu fügen, wuchs und wuchs; diese Realität
+kann man sich mit normaler Fantasie kaum vorstellen. Man wurde an
+vielen Orten nicht mehr toleriert, wenn das Handy des Gegenübers
+anzeigte, daß man unter Koppel-Hausarrest stand. Aus den fünfzig
+notwendigen »Hatern« wurden irgendwann zehn, später fünf. Und dann hat
+die Koppel natürlich auch nach eigenem Gutdünken Leute unter Hausarrest
+gestellt.
+
+? Hatte man keine Angst vor Willkür?
+
+(lacht verächtlich) Ach was! Das wurde den Leuten als demokratische
+Errungenschaft verkauft! Endlich kein abgeschlossenes Jura-Studium mehr
+brauchen, um über jemanden zu richten. Das fanden viele toll - gelebte
+Demokratie! Mit dem Handy...
+
+? Aber waren die Leute nicht auch genervt von der ständigen
+Reizüberflutung? Von dem ständig »Auf-Empfang-Sein-Müssen«?
+
+! Schon, aber die Koppel bemühte sich, die Reizüberflutung zu
+minimieren. Freilich wollte man die Menschen aber auch zu einem
+ständigen Multitasking und Bereit-Sein umerziehen.
+
+? Gab es keine Möglichkeiten, sich dem zu entziehen?
+
+! Viele wollten es gar nicht. Sie glauben ja gar nicht - viele Menschen
+hatten ständig Angst, ihnen entgehe etwas wichtiges, vielleicht eine
+Liebschaft - was passierte, wenn sie mal für eine Stunde nicht
+erreichbar waren. Und es gab ja auch immer weniger Gründe, nicht online
+zu sein. Am Arbeitsplatz war das Handy erlaubt, auch an der Uni. In der
+Freizeit sowieso.
+
+? Wie war das im Kino?
+
+! Die wenigen Kinos, die es noch gab, wurden überwiegend von Leuten
+genutzt, die sich keine eigenen Projektoren leisten konnten oder deren
+Wohnung zu klein war, um eine ausreichend große Leinwand aufzunehmen;
+es war im modernen Kino selbstverständlich, sein Handy niemals aus-
+oder stummzuschalten. Die Filme, die in den Kinos liefen, waren
+seichter Natur, so daß es niemanden störte, wenn ständig was los war,
+wenn Koppel-Nachrichten eintrafen oder gar jemand während des Films
+telefonierte. Im Gegenteil. Die Filme wurden später sogar gezielt
+darauf ausgelegt.
+
+Leute, die sich einen Projektor leisten konnten, sahen Filme im
+kleineren Kreis zu Hause - da hatte man ja auch mehr Auswahl an Filmen.
+Die Koppel-Nachrichten wurden da direkt über den Beamer eingeblendet.
+
+Ach ja, die Kinobetreiber erlebten eine Renaissance, waren mit die
+angesehensten Institutionen der Stadt. An ihnen war das Versprechen
+wirklich wahr geworden, daß die Technologie sie in den Wohlstand führen
+würde. Sie mußten gar nichts tun: Die Filme wurden automatisch
+ausgewählt, automatisch geliefert - die Publikumsplanung übernahm die
+Koppel. Die Wartung der Technik erfolgte ebenso automatisch.
+Kinobetreiber mußten einfach nur da sein; aus formalen Gründen mußte es
+halt einen Besitzer geben. Wie wurden die Kinobetreiber beneidet - sie
+waren zu meiner Zeit angesehener als so mancher Intendant.
+
+? Apropos Intendant... wie sah es denn in der Oper aus?
+
+! Kommen Sie mir bloß nicht mit der Oper! Das war ja noch viel
+schlimmer als im Kino; grauenhaft, wenn ich dran denke. Manche Leute
+wollten ja, um wenigstens einen Grund zu haben, die Handys mal für ein
+paar Stunden auszuschalten, die Pausen abschaffen...
+
+? Lassen Sie mich raten: Man hat stattdessen mehr Pausen eingeführt?
+
+! Nein, man ist immer sehr subtil vorgegangen. In diesem Fall
+manipulierte man die Partituren, man strich einzelne Noten, die durch
+Handyklingeln ersetzt wurden. Man kooperierte mit den großen
+Handyfirmen. Die entwickelten dann Handy-Jammer, mit denen man
+Koppel-Mitteilungen aufs Handy zu einer ganz bestimmten Zeit
+durchlassen konnte. Noch nicht versandte Mitteilungen von
+Koppelfreunden wurden dann an den richtigen Musikstellen zugestellt -
+mit speziellen Klingeltönen. Die Noten wurden also durch Handyklingeln
+erstetzt - die Oper klang nur gut, wenn das Publikum viele
+Koppel-Freunde hatte. Die Älteren und die weniger Handybegeisterten
+wurden so immer mehr aus den Spielstätten verdrängt. Die
+Koppelfreundlosen, die saßen einfach nur da, und nach einer gelungenen
+Kadenz - da klingelte ihr Handy nicht! Wie peinlich! - das können Sie
+sich gar nicht vorstellen.
+
+? Und ich dachte immer, Handys seien im Theater verboten.
+
+! Das änderte man einfach über Nacht - die Theater müßten modern
+werden, hieß es. Und die Orchestermusiker bekamen ja nichts davon mit.
+Ihre Noten bezogen sie ausnahmslos von einer kleinen Werbefirma über
+das Internet - kostenlos, versteht sich. Man bezahlte mit seinen Daten,
+glaubte man. Obwohl man nicht so recht wußte, was das hieß. Aber man
+bezahlte mit noch mehr: Es fiel gar nicht auf, wenn man einzelne Noten
+strich, denn die Originale hatte man ja nie gesehen. Und die Musiker
+merkten hinterher nur, daß es trotz Handyklingeln irgendwie immer noch
+gut klang. Nur die Inspizienten mußten eingeweiht werden, aber die
+waren aufgrund ihrer finanziellen Situation meist nicht in der Lage,
+sich zur Wehr zu setzen, wenn sie das Problem erkannten. Ach ja,
+zeitgenössische Komponisten wie Sallinen oder Charles wurden nicht mehr
+gespielt, denn bei deren teils sehr atonaler Musik funktionierten diese
+Handy-Spielchen nicht, weil das durchschnittliche Publikum dort kleine
+Diskrepanzen so gut wie nicht bemerkte.
+
+? Haben die Leute, die keine Handys hatten, nicht verärgert reagiert
+und protestiert?
+
+! Öffentliche Versammlungen waren ja nur noch auf der Koppel - nicht
+mehr per se unter freiem Himmel erlaubt. Man kam nicht dazu, zu
+protestieren oder einen Protest zu organisieren.
+
+? Wie hat man denn Versammlungen in der Öffentlichkeit aufgelöst? Die
+Polizei hatte man ja auf ein Minimum unqualifizierter Betrunkener
+zusammengeschrumpft.
+
+! Die Zeiten meiner Großeltern - die der Polizeigewalt und der
+Wasserwerfer - die waren endgültig vorbei. Wobei die Alternative auch
+nicht viel subtiler war, muß ich sagen. Wie Sie wissen hat die Koppel
+auch Daten über den Gesundheitszustand ihrer Mitglieder gehabt. Und
+plante unter anderem die Jogging-Routen und Zeitpläne. Wenn also eine
+Versammlung aufgelöst werden sollte, ließ die Koppel einfach viele
+Jogger in die Gegend joggen. Dort angekommen, bekamen die dann alle
+viele Nachrichten oder Anrufe und sprachen laut in ihre Handys. Ein
+normaler Mensch konnte sich unter diesen Bedingungen gar nicht mehr
+vernünftig unterhalten. Nein, Versammlungen unter freiem Himmel gab es
+keine mehr.
+
+? Wirklich subtil war das ja nun wahrlich nicht.
+
+! Das nicht, aber den Widersacher zu erkennen, das war schwer. Wenn
+viele Leute um Sie in ihr Handy blöken - sehen Sie das gleich als
+Verschwörung gegen Sie? Man würde Ihnen ein Aufmerksamkeitsdefizit
+bescheinigen, aber Sie nicht ernstnehmen. Den Feind sah man damals gar
+nicht mehr.
+
+? Wie war das in den Discos? Wurde die Musik regelmäßig runtergeregelt,
+damit man telefonieren konnte?
+
+! Nein, in den Discos wurde tatsächlich nicht telefoniert.
+
+? Man hatte also seine Ruhe dort?
+
+! Vom Handy? Nein. Es gab ja die Koppel-Nachrichten. Die bekam man auch
+dort. Es war üblich, beim Tanzen oder beim Flirten ab und zu die
+Nachrichten zu lesen. Viele Discos sendeten Funksignale, die die Handys
+automatisch auf Vibrationsalarm stellten.
+
+? Und die Leute akzeptierten das? Dann gab es doch für den typischen
+Disco-Besucher gar keinen Grund, eine Revolution zu starten, oder?
+
+! (lacht) Nein, das nicht. Aber die Aufstände gingen tatsächlich von
+den Diskotheken aus.
+
+? Wie sah denn die Koppel auf dem Höhepunkt ihrer Macht aus?
+
+! Tja, es ist gar nicht ganz einfach zu sagen, wann genau dieser
+Höhepunkt erreicht war. Aber ziemlich nahe da dran war der Tag, wo sich
+ein Mitarbeiter der »Datenkoppel« ein Palais bauen lassen wollte. Er
+hatte zweifelsohne viel Geld, aber er brauchte keines für den Bau.
+
+? Wie schaffte er das?
+
+Bei der Koppel wurden die Fähigkeiten der Mitglieder quantitativ
+bewertet - besagter Mitarbeiter versprach einfach, daß er jeden, der
+sich am Schloßbau beteiligte, durch eine Aufwertung seiner
+Fähigkeitseinschätzungen belohnen würde. Wenn man je einen Sinn im
+Leben gefunden hatte, dann war das zu dieser Zeit. Jeder lebte in der
+Hoffnung, irgendwann einhundert Prozent zu erreichen. Da baute man
+natürlich nur zu bereitwillig an einem Prunkschloß mit, um ein paar
+Prozente höher zu kommen.
+
+? Das Schloß wurde fertig?
+
+! Ja, in kürzester Zeit.
+
+? Das war der Höhepunkt der Macht der Koppel?
+
+! Ja, zumindest der gut sichtbare Teil. Die Koppel kontrollierte auch
+die Gedanken vieler Leute.
+
+? Wie kann man sich denn das vorstellen? Das klingt ja schon sehr
+erschreckend für mich.
+
+! Klingt es erschreckend für Sie, ein Tagebuch zu führen? Natürlich
+nicht. Blöd nur, wenn es jemand findet. Blöder noch, wenn es jemand
+manipuliert. Die Koppel war freilich viel einfacher zu benutzen als ein
+Tagebuch, deshalb lagerte man auch viel größere Teile seines Gehirns
+darin aus. Einige Koppel-Protestgruppen organisierten sich tatsächlich
+über die Koppel selbst. Man änderte dann einfach ihre Einträge, jeder
+glaubte den Ort des Protestes an einer anderen Stelle. So fand man
+nicht zusammen. Einigen redete man sogar ein, sie wollten für die
+Koppel demonstrieren. Und sie glaubten das.
+
+? Irgendwann gab es aber dann doch Proteste - und die Macht der Koppel
+brach. Wie kam es dazu?
+
+! Durch Zufall. Das fing in den Discos an...
+
+? Sie sagten doch vorhin, der durchschnittliche Disco-Besucher sei
+nicht wirklich genervt gewesen von der Alltagssituation. Wie paßt das
+jetzt mit den Aufständen zusammen?
+
+! Es hing an den Türstehern. Es gab ja irgendwann diese Türsteher-App
+fürs Handy. Wenn ein Türsteher sich nicht danach richtete, gab's Ärger.
+Und das gefiel den Türstehern gar nicht. Die hatten nämlich ihre
+eigenen Heuristiken, um zu entscheiden, wen sie in ihres Hausherrn
+Gebiet einließen und wen nicht. Daß ihnen nun jemand Fremdes
+vorschrieb, wen sie einlassen sollten, paßte ihnen gar nicht. Sie
+fühlten sich degradiert. Es war ein bekannter Türsteher, der
+schließlich die ganze Sache mit den »sozialen Netzwerken« satt hatte.
+Er ließ dann nur noch Leute ohne Koppel-Account in seine Disco. Von ihm
+ließen sich viele Kollegen inspirieren. Von da war es dann nicht mehr
+weit zur Revolution...
+
+? Das war das Ende der »Ära Internet«?
+
+! Ach ja, wenn meine Fantasie doch nur ausreichen würde, diese Frage zu
+beantworten. Ich weiß ja noch nicht mal, ob es tatsächlich zur
+Revolution kam - genauer: kommen wird. Ich danke Ihnen auf jeden Fall
+für dieses Gespräch. Meine Gedanken soweit spinnen zu dürfen, hat mich
+jedenfalls für eine kleine Weile abgelenkt. Abgelenkt von der Realität.
+Denn ich fürchte, wir sind nicht am Ende einer großen Unterdrückung,
+sondern wir stehen ganz am Anfang.
+
+*Quelle: die datenschleuder #95 / 2011, S. 43-48 <http://ds.ccc.de/pdfs/ds095.pdf>*
+
+
+# Links
+
+Wikipedia: <http://de.wikipedia.org/wiki/Facebook#Gesch.C3.A4ftsmodell>
+
+Nadir: "Es gibt keine richtige Nutzung im falschen Facebook" aus: Phase 2. Zeitschrift gegen die Realität. Nr. 46, Herbst 2013. phase-zwei.org
+<http://www.nadir.org/news/interview.html>
+
+<http://www.leuphana.de/martin-warnke.html>
+
+<http://projekte.free.de/anarchismus-und-internet/>