---
format: markdown
title: Facebook-Kritik
...


# Das Informationstausch-Modell

Das kommerzielle Informationstausch-Modell hat schwache Vorläufer im
Adresshandel der Telekommunikationsunternehmen oder bei den Veranstaltern
von Gewinnspielen, aber zum ganz großen Geschäft gerät es erst im
Internet, denn hier fließen Informationen nicht nur, sondern können auch
gewinnbringend verarbeitet werden, vor allem, um dem Werbemodell
zuzuspielen.

Nehmen wir Facebook als prominentes Beispiel. Der Beitritt zum sozialen
Netzwerk ist kostenlos, die Firma bietet "Community as Commodity" [77],
Gemeinschaft, und zwar als Ware. Die Gegenleistung des Tauschhandels
besteht seitens der Kundschaft aus der Preisgabe persönlicher
Informationen, die in der Gemeinschaft als gewollt, ja geradezu
exhibitionistisch-lustvoll erlebt wird.

Facebook greift zu jeder Finte, die Adressbücher der Teilnehmenden
auszulesen und sich anzueignen, um die Bekanntschaftsnetze
auszukundschaften. Selbst das Ausscheiden aus dem Service ist faktisch
unmöglich, die Daten bleiben weiterhin gespeichert. Das Erlösmodell
basiert vollständig auf dem Netzwerkgedanken, Facebook-Gründer Mark
Zuckerberg hat sehr genau verstanden, welcher Zusatznutzen aus der
Netzanalyse zu ziehen ist.

Was seine Firma tut, liest sich wie ein Strafttatbestandskatalog des
Verstoßes gegen den Datenschutz, denn alles, was den Kämpferinnen und
Kämpfern für die informationelle Selbstbestimmung schützenswert erschien,
ist auch Facebook wert und teuer, und zwar buchstäblich. Der Datenschutz
aus den 1970er Jahren ist von solchen Entwicklungen völlig überrannt
worden.

Was die Leute damals auf die Straßen und zum Aufstand gegen den Staat
trieb, gibt man einer Firma nunmehr freiwillig. So raffiniert ist wohl
noch keine Protestbewegung rechts überholt worden.

Facebook erklärt seinen Geschäftskunden, die eigene Applikationen in
Facebook einbauen wollen, sehr genau, wie man mit den Daten der sozialen
Netze Geschäfte machen kann, an denen die Mutterfirma dann natürlich
partizipiert. Zur Haupteinnahmequelle Werbung spricht Facebook sehr offen:
"Wir hatten bei Facebook Erfolg damit, unseren Nutzern gezielte Werbung
auf Grundlage der Informationen anzubieten, die wir über sie haben."
Persönliche Daten werden getauscht gegen die Zielpassung von Werbung.

[77] David Kreps, Community as Commodity (2008).
     <http://www.kreps.org/papers/communityascommodity_ifip95final.pdf>
     "[...] there is growing evidence that SNS [social networking sites]
     and MUVE [multi-user virtual environments] are actually part of a
     hegemonic transnational agenda of conservative venture capital which
     reinforces hierarchies of consumption." 


*Quelle: Das Informationstausch-Modell, S. 133f., M. Warnke, ISBN 978-3-88506-679-8, <http://www.junius-verlag.de/>*



# Widerstand war zwecklos

*von Hans-Christian Espérer <hc |ätt| hcesperer.org>*

2082 - Die Journalistin Erica Bayer im Gespräch mit dem
Widerstandskämpfer Marcel Salzberg anläßlich der vor dreißig Jahren
abgeschafften »Datenkoppel« und dem damit verbundenen Zusammenbruch des
Internets.

? Herr Salzberg, Sie sind einer der wenigen Zeitzeugen. Ein Glück für
uns, denn man hat ja damals alle Festplatten formatiert, alle
Flash-Drives vernichtet.

! Die Daten wurden vernichtet, ja. Man hatte Angst vor Viren, die
später wieder hervortreten könnten, wenn man den alten Kram einer
Untersuchung unterzieht. Das ist zumindest einer der Gründe.

? Erinnern Sie sich noch an die Anfänge der Datenkoppel?

! Ja, klar. Ich war ja damals in den besten Jahren, nicht? Also ich
hatte ja schon früh angefangen, am "Komputer" zu hocken, so sagte man
damals, das war so 1993 rum. Da war der Computer noch gleichberechtigt
mit anderen Haushaltsgeräten, bis die Technik dann immer kleiner wurde.
Die Datenkoppel kam recht spät. Ich glaube, so um 2011 rum. Vorher gab
es diverse andere soziale Netzwerke - so nannte man sowas -, bis man
dann irgendwann beschloß, in der "Koppel" alle zu vereinen.

? Warum?

! Warum man diese Netzwerke schuf? Ich weiß es nicht genau. Meine
Vermutung ist, daß dieser ganze Netzwerkkram von Geeks und Hackern
begonnen wurde, die einen echten Mehrwert für die Gesellschaft schaffen
wollten, die den Leuten langweilige Arbeit abnehmen wollten. Diese
Leute meinten es gut, aber sie merkten nicht, daß sie in Wahrheit
unermüdlich daran arbeiteten, Werkzeuge für einen Diktator
bereitzulegen. Wenn ich an dieser Stelle mal Paul Denton zitieren darf.
Warum man dann die Koppel ins Leben rief? Die anderen Netzwerke hatten
Probleme, da kam halt wieder jemand und behauptete, alles besser machen
zu wollen. Und die Leute waren es inzwischen gewohnt, alle halbe Jahre
in ein neues Netzwerk umzuziehen.

? Wer steckte denn hinter der »Datenkoppel«? War das ein Unternehmen
oder eine Einzelperson?

! Es gab eine Person, die nannte sich »Der Protektor«. Ihren richtigen
Namen erfuhren wir nie. Ebensowenig wußten wir, ob das Ganze ein
Marketinggag war oder ob es diese Person wirklich gab und welche Rolle
sie spielte.

? Ist das nicht eine große Ironie, daß der vermeintliche Besitzer der
Koppel pseudonym auftrat?

! Ach was. Was sagen denn schon Namen? Die sagen fast genausowenig wie
ein Geburtsdatum.

? Aber gerade letzteres wurde doch bei der Anmeldung immer verlangt?
Warum denn, wenn es so nichtssagend ist?

! Warum verbeugt man sich vor einem König? Es ist ein Ritual. Allen
Beteiligten wird klargemacht, wer hier das Sagen hat. Das geschah bei
Koppel-Nutzern schon bei der Registrierung. Viele Leute glaubten,
Widerstand zu leisten, indem sie ein falsches Geburtsdatum angaben. Wie
sehr diese irrten. Daß diese Leute überhaupt etwas dort angaben, das
war das Problem. Das Geburtsdatum konnte die Koppel sowieso deduzieren.
Aber warum soll eine Firma mein Geburtsdatum wissen? Wenn ich es ihr
ohne plausiblen Grund nenne, habe ich mich schon unterworfen. Nicht
auch - sondern erst recht, wenn ich ein falsches Geburtsdatum angebe.

? Sie fingen damals an, die Leute zu warnen.

! Das ist richtig. Aber immer weniger Leute wollten mir zuhören. Ich
glaube, viele, die einst den Staat für laxen Datenschutz kritisiert
hatten, suchten nur Aufmerksamkeit, fühlten sich von der Gesellschaft
nicht ernstgenommen. Als der Staat sie dann beachtete und als Firmen
anfingen, benutzerfreundliche Software zu schreiben, die ihnen einen
Mehrwert brachte, verstummten viele ehemals Kritische erstaunlich
schnell. Zum Teil schlug die Stimmung sogar ins Gegenteil um. Und die
wenigen, die noch aktiv waren, von denen forderten viele einfach nur
mehr Datenschutz...

? Der Datenschutz ist Ihnen nicht wichtig?

! Doch, doch. Aber das Wort hat für mich mit der Zeit einen ganz
negativen Beigeschmack bekommen. Der Datenschutz wurde oft als
Ablenkung genutzt. Viele Leute konnten das Gewicht ihrer Daten gar
nicht einschätzen. Und dann gab es immer diese schrecklichen Beispiele.
Ohne Datenschutz würde man mehr Kleinkriminelle erwischen, zum
Beispiel. Das war eine Argumentation der Datenschutzbefürworter,
wohlgemerkt. Das müssen Sie sich einmal vorstellen. Und dann kam immer
das "Totschlagargument" der personalisierten Werbung. Lassen Sie mich
Ihnen eine persönliche Frage stellen: Würde es Sie stören, wenn Sie
statt »normaler« personalisierte Werbung bekämen?

? Also, ich glaube, Werbung würde mich so oder so stören. Zumindest in
dieser aufdringlichen Form zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

! Präzise. Für mich ist beides - nichtpersonalisierte wie
personalisierte Werbung - gleichermaßen verachtenswert. Aber die
personalisierte Werbung war für viele das Hauptargument gegen »soziale
Netzwerke«, nicht nur gegen die Koppel. Und, naja, viele wollten
Datenschutz, aber dachten unbewußt bei sich, mehr als personalisierte
Werbung kann mir nicht passieren, und das ist ja eigentlich nicht
schlimm. Deshalb war der Widerstand sehr schnell gebrochen.

? Und die Angst, sich mit seinen Daten völlig nackig zu machen?

! Naja, ignorance is bliss, Sie wissen schon. Und die Fantasie vieler
reichte auch einfach nicht weit. Und dann war ja da dieses
Ohnmachtsgefühl. Und, während immer mehr Leute glaubten, der
Datenschutz sei das einzige Problem: Sie ignorierten dieses Problem
gerne. Aber es gab ja noch viel größere Gefahren. Damals ging zum
Beispiel der Trend mit der Zeitplanung los. Wenn Sie abends Lust auf
ein Tennisspiel verspürten, sagten Sie nur der Koppel Bescheid. Die
Koppel wußte um Ihre Finanzen. Sie suchte einen Tennisplatz heraus, den
Sie sich leisten konnten. Die Koppel wußte, ob Sie ein Auto besaßen.
Falls nicht, stellte sie sicher, daß der Tennisplatz per ÖPNV
erreichbar war. Die Koppel wußte, welche Ihrer Freunde ebenfalls Tennis
spielten. Die Koppel lud diejenigen Freunde ein, die Ihnen ebenbürtige
Gegner sein würden. So wurde der Spielspaß maximiert. Fast keiner sah
da ein Problem.

? Das klingt ja auch nicht nach einem Problem. Das klingt nach einem
echten Mehrwert.

! Ein riesengroßer Mehrwert! Nur den Preis, den sahen viele nicht. Der
Preis war, daß alle sozialen Ereignisse plötzlich von einem nebulösen
Unternehmen zentral gesteuert wurden! Auf der ganzen Erde! Und was
glauben Sie, wenn einer vom Netzwerk bestraft werden sollte, dann wurde
er einfach nicht mehr eingeladen. Und durfte auch nicht mehr einladen.
Und die Leute waren genervt, wenn man sie »manuell« einlud, weil das
dann nicht in ihren Koppel-Kalendern berücksichtigt war. Plötzlich
hatte man nicht nur Angst, gegen die mehr oder weniger demokratisch
legitimierten Gesetze des eigenen Landes zu verstoßen. Noch größere
Angst hatte man aber davor, gegen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen
einer Firma zu verstoßen, denn dies hätte im Extremfall zur kompletten
Vereinsamung führen können.

? Und traf das viele Leute?

! Immer mehr. Auch offizielle Veranstaltungen wurden immer öfter über
die Koppel organisiert. Irgendwann konnte man in seinen Koppel-Kalender
keine »normalen« Events mehr eintragen - dadurch zwang die Koppel
einen, alles, was man im Koppel-Kalender haben wollte, über diese
Plattform zu organisieren. Viele Handys unterstützten nur noch den
KoppelKalender. Wer also sein Handy zur Terminplanung nutzen wollte,
mußte dies oftmals zwangsläufig komplett über die Koppel machen.

? Gab es keine Leute, die sich trotz alldem noch »manuell« verabredet
haben?

! Sicher, einige Zeit schon.

? Das hat doch die Koppel sicher gestört, wenn sie so machtbesessen
war, wie Sie behaupten.

! Naja, das waren ja wenige. Und die galten auch als wahnsinnig
rückschrittlich. Man ist ihnen oft mit großer Aggression begegnet. Ich
erinnere mich noch an einen Bekannten, den ich mal im Zug kennenlernte
- Kalle hieß er, glaube ich -, der hat mich einen Lügner genannt, als
ich ihm sagte, ich habe keinen Koppel-Account. Verstehen Sie, der hat
geglaubt, ich hätte Angst vor ihm oder wolle seine Freundschaft nicht.
Weil es in sein Weltbild nicht paßte, keinen Koppel-Account zu haben.

? Hat denn die Koppel überhaupt auf die »Manuellen« reagiert?

! Die Koppel hat nicht direkt darauf reagiert. Man hat nur irgendwann
die sogenannten »freiwilligen Hausarreste« eingeführt.

? Was war das?

! Man konnte mit seinem Handy über Bilderkennung Leute »scannen«. Man
sah dann, ob sich jemand unter Hausarrest befand. Die Koppel hatte
irgendwann eine Funktion, die nannte sich »I Hate«. Wenn fünfzig Leute
eine Person »hateten«, so nannte man das, dann stellte die Koppel diese
gehatete Person für eine Woche unter Hausarrest.

? Diese Hausarreste konnte man doch aber getrost ignorieren.

! (lacht) Na klar, von Gesetzes wegen. Aber viele akzeptierten das.
Unterschätzen Sie niemals die gesellschaftlichen Zwänge. Der Druck,
sich einem Koppel-Hausarrest zu fügen, wuchs und wuchs; diese Realität
kann man sich mit normaler Fantasie kaum vorstellen. Man wurde an
vielen Orten nicht mehr toleriert, wenn das Handy des Gegenübers
anzeigte, daß man unter Koppel-Hausarrest stand. Aus den fünfzig
notwendigen »Hatern« wurden irgendwann zehn, später fünf. Und dann hat
die Koppel natürlich auch nach eigenem Gutdünken Leute unter Hausarrest
gestellt.

? Hatte man keine Angst vor Willkür?

(lacht verächtlich) Ach was! Das wurde den Leuten als demokratische
Errungenschaft verkauft! Endlich kein abgeschlossenes Jura-Studium mehr
brauchen, um über jemanden zu richten. Das fanden viele toll - gelebte
Demokratie! Mit dem Handy...

? Aber waren die Leute nicht auch genervt von der ständigen
Reizüberflutung? Von dem ständig »Auf-Empfang-Sein-Müssen«?

! Schon, aber die Koppel bemühte sich, die Reizüberflutung zu
minimieren. Freilich wollte man die Menschen aber auch zu einem
ständigen Multitasking und Bereit-Sein umerziehen.

? Gab es keine Möglichkeiten, sich dem zu entziehen?

! Viele wollten es gar nicht. Sie glauben ja gar nicht - viele Menschen
hatten ständig Angst, ihnen entgehe etwas wichtiges, vielleicht eine
Liebschaft - was passierte, wenn sie mal für eine Stunde nicht
erreichbar waren. Und es gab ja auch immer weniger Gründe, nicht online
zu sein. Am Arbeitsplatz war das Handy erlaubt, auch an der Uni. In der
Freizeit sowieso.

? Wie war das im Kino?

! Die wenigen Kinos, die es noch gab, wurden überwiegend von Leuten
genutzt, die sich keine eigenen Projektoren leisten konnten oder deren
Wohnung zu klein war, um eine ausreichend große Leinwand aufzunehmen;
es war im modernen Kino selbstverständlich, sein Handy niemals aus-
oder stummzuschalten. Die Filme, die in den Kinos liefen, waren
seichter Natur, so daß es niemanden störte, wenn ständig was los war,
wenn Koppel-Nachrichten eintrafen oder gar jemand während des Films
telefonierte. Im Gegenteil. Die Filme wurden später sogar gezielt
darauf ausgelegt.

Leute, die sich einen Projektor leisten konnten, sahen Filme im
kleineren Kreis zu Hause - da hatte man ja auch mehr Auswahl an Filmen.
Die Koppel-Nachrichten wurden da direkt über den Beamer eingeblendet.

Ach ja, die Kinobetreiber erlebten eine Renaissance, waren mit die
angesehensten Institutionen der Stadt. An ihnen war das Versprechen
wirklich wahr geworden, daß die Technologie sie in den Wohlstand führen
würde. Sie mußten gar nichts tun: Die Filme wurden automatisch
ausgewählt, automatisch geliefert - die Publikumsplanung übernahm die
Koppel. Die Wartung der Technik erfolgte ebenso automatisch.
Kinobetreiber mußten einfach nur da sein; aus formalen Gründen mußte es
halt einen Besitzer geben. Wie wurden die Kinobetreiber beneidet - sie
waren zu meiner Zeit angesehener als so mancher Intendant.

? Apropos Intendant... wie sah es denn in der Oper aus?

! Kommen Sie mir bloß nicht mit der Oper! Das war ja noch viel
schlimmer als im Kino; grauenhaft, wenn ich dran denke. Manche Leute
wollten ja, um wenigstens einen Grund zu haben, die Handys mal für ein
paar Stunden auszuschalten, die Pausen abschaffen...

? Lassen Sie mich raten: Man hat stattdessen mehr Pausen eingeführt?

! Nein, man ist immer sehr subtil vorgegangen. In diesem Fall
manipulierte man die Partituren, man strich einzelne Noten, die durch
Handyklingeln ersetzt wurden. Man kooperierte mit den großen
Handyfirmen. Die entwickelten dann Handy-Jammer, mit denen man
Koppel-Mitteilungen aufs Handy zu einer ganz bestimmten Zeit
durchlassen konnte. Noch nicht versandte Mitteilungen von
Koppelfreunden wurden dann an den richtigen Musikstellen zugestellt -
mit speziellen Klingeltönen. Die Noten wurden also durch Handyklingeln
erstetzt - die Oper klang nur gut, wenn das Publikum viele
Koppel-Freunde hatte. Die Älteren und die weniger Handybegeisterten
wurden so immer mehr aus den Spielstätten verdrängt. Die
Koppelfreundlosen, die saßen einfach nur da, und nach einer gelungenen
Kadenz - da klingelte ihr Handy nicht! Wie peinlich! - das können Sie
sich gar nicht vorstellen.

? Und ich dachte immer, Handys seien im Theater verboten.

! Das änderte man einfach über Nacht - die Theater müßten modern
werden, hieß es. Und die Orchestermusiker bekamen ja nichts davon mit.
Ihre Noten bezogen sie ausnahmslos von einer kleinen Werbefirma über
das Internet - kostenlos, versteht sich. Man bezahlte mit seinen Daten,
glaubte man. Obwohl man nicht so recht wußte, was das hieß. Aber man
bezahlte mit noch mehr: Es fiel gar nicht auf, wenn man einzelne Noten
strich, denn die Originale hatte man ja nie gesehen. Und die Musiker
merkten hinterher nur, daß es trotz Handyklingeln irgendwie immer noch
gut klang. Nur die Inspizienten mußten eingeweiht werden, aber die
waren aufgrund ihrer finanziellen Situation meist nicht in der Lage,
sich zur Wehr zu setzen, wenn sie das Problem erkannten. Ach ja,
zeitgenössische Komponisten wie Sallinen oder Charles wurden nicht mehr
gespielt, denn bei deren teils sehr atonaler Musik funktionierten diese
Handy-Spielchen nicht, weil das durchschnittliche Publikum dort kleine
Diskrepanzen so gut wie nicht bemerkte.

? Haben die Leute, die keine Handys hatten, nicht verärgert reagiert
und protestiert?

! Öffentliche Versammlungen waren ja nur noch auf der Koppel - nicht
mehr per se unter freiem Himmel erlaubt. Man kam nicht dazu, zu
protestieren oder einen Protest zu organisieren.

? Wie hat man denn Versammlungen in der Öffentlichkeit aufgelöst? Die
Polizei hatte man ja auf ein Minimum unqualifizierter Betrunkener
zusammengeschrumpft.

! Die Zeiten meiner Großeltern - die der Polizeigewalt und der
Wasserwerfer - die waren endgültig vorbei. Wobei die Alternative auch
nicht viel subtiler war, muß ich sagen. Wie Sie wissen hat die Koppel
auch Daten über den Gesundheitszustand ihrer Mitglieder gehabt. Und
plante unter anderem die Jogging-Routen und Zeitpläne. Wenn also eine
Versammlung aufgelöst werden sollte, ließ die Koppel einfach viele
Jogger in die Gegend joggen. Dort angekommen, bekamen die dann alle
viele Nachrichten oder Anrufe und sprachen laut in ihre Handys. Ein
normaler Mensch konnte sich unter diesen Bedingungen gar nicht mehr
vernünftig unterhalten. Nein, Versammlungen unter freiem Himmel gab es
keine mehr.

? Wirklich subtil war das ja nun wahrlich nicht.

! Das nicht, aber den Widersacher zu erkennen, das war schwer. Wenn
viele Leute um Sie in ihr Handy blöken - sehen Sie das gleich als
Verschwörung gegen Sie? Man würde Ihnen ein Aufmerksamkeitsdefizit
bescheinigen, aber Sie nicht ernstnehmen. Den Feind sah man damals gar
nicht mehr.

? Wie war das in den Discos? Wurde die Musik regelmäßig runtergeregelt,
damit man telefonieren konnte?

! Nein, in den Discos wurde tatsächlich nicht telefoniert.

? Man hatte also seine Ruhe dort?

! Vom Handy? Nein. Es gab ja die Koppel-Nachrichten. Die bekam man auch
dort. Es war üblich, beim Tanzen oder beim Flirten ab und zu die
Nachrichten zu lesen. Viele Discos sendeten Funksignale, die die Handys
automatisch auf Vibrationsalarm stellten.

? Und die Leute akzeptierten das? Dann gab es doch für den typischen
Disco-Besucher gar keinen Grund, eine Revolution zu starten, oder?

! (lacht) Nein, das nicht. Aber die Aufstände gingen tatsächlich von
den Diskotheken aus.

? Wie sah denn die Koppel auf dem Höhepunkt ihrer Macht aus?

! Tja, es ist gar nicht ganz einfach zu sagen, wann genau dieser
Höhepunkt erreicht war. Aber ziemlich nahe da dran war der Tag, wo sich
ein Mitarbeiter der »Datenkoppel« ein Palais bauen lassen wollte. Er
hatte zweifelsohne viel Geld, aber er brauchte keines für den Bau.

? Wie schaffte er das?

Bei der Koppel wurden die Fähigkeiten der Mitglieder quantitativ
bewertet - besagter Mitarbeiter versprach einfach, daß er jeden, der
sich am Schloßbau beteiligte, durch eine Aufwertung seiner
Fähigkeitseinschätzungen belohnen würde. Wenn man je einen Sinn im
Leben gefunden hatte, dann war das zu dieser Zeit. Jeder lebte in der
Hoffnung, irgendwann einhundert Prozent zu erreichen. Da baute man
natürlich nur zu bereitwillig an einem Prunkschloß mit, um ein paar
Prozente höher zu kommen.

? Das Schloß wurde fertig?

! Ja, in kürzester Zeit.

? Das war der Höhepunkt der Macht der Koppel?

! Ja, zumindest der gut sichtbare Teil. Die Koppel kontrollierte auch
die Gedanken vieler Leute.

? Wie kann man sich denn das vorstellen? Das klingt ja schon sehr
erschreckend für mich.

! Klingt es erschreckend für Sie, ein Tagebuch zu führen? Natürlich
nicht. Blöd nur, wenn es jemand findet. Blöder noch, wenn es jemand
manipuliert. Die Koppel war freilich viel einfacher zu benutzen als ein
Tagebuch, deshalb lagerte man auch viel größere Teile seines Gehirns
darin aus. Einige Koppel-Protestgruppen organisierten sich tatsächlich
über die Koppel selbst. Man änderte dann einfach ihre Einträge, jeder
glaubte den Ort des Protestes an einer anderen Stelle. So fand man
nicht zusammen. Einigen redete man sogar ein, sie wollten für die
Koppel demonstrieren. Und sie glaubten das.

? Irgendwann gab es aber dann doch Proteste - und die Macht der Koppel
brach. Wie kam es dazu?

! Durch Zufall. Das fing in den Discos an...

? Sie sagten doch vorhin, der durchschnittliche Disco-Besucher sei
nicht wirklich genervt gewesen von der Alltagssituation. Wie paßt das
jetzt mit den Aufständen zusammen?

! Es hing an den Türstehern. Es gab ja irgendwann diese Türsteher-App
fürs Handy. Wenn ein Türsteher sich nicht danach richtete, gab's Ärger.
Und das gefiel den Türstehern gar nicht. Die hatten nämlich ihre
eigenen Heuristiken, um zu entscheiden, wen sie in ihres Hausherrn
Gebiet einließen und wen nicht. Daß ihnen nun jemand Fremdes
vorschrieb, wen sie einlassen sollten, paßte ihnen gar nicht. Sie
fühlten sich degradiert. Es war ein bekannter Türsteher, der
schließlich die ganze Sache mit den »sozialen Netzwerken« satt hatte.
Er ließ dann nur noch Leute ohne Koppel-Account in seine Disco. Von ihm
ließen sich viele Kollegen inspirieren. Von da war es dann nicht mehr
weit zur Revolution...

? Das war das Ende der »Ära Internet«?

! Ach ja, wenn meine Fantasie doch nur ausreichen würde, diese Frage zu
beantworten. Ich weiß ja noch nicht mal, ob es tatsächlich zur
Revolution kam - genauer: kommen wird. Ich danke Ihnen auf jeden Fall
für dieses Gespräch. Meine Gedanken soweit spinnen zu dürfen, hat mich
jedenfalls für eine kleine Weile abgelenkt. Abgelenkt von der Realität.
Denn ich fürchte, wir sind nicht am Ende einer großen Unterdrückung,
sondern wir stehen ganz am Anfang.

*Quelle: die datenschleuder #95 / 2011, S. 43-48 <http://ds.ccc.de/pdfs/ds095.pdf>*


# Links

Wikipedia: <http://de.wikipedia.org/wiki/Facebook#Gesch.C3.A4ftsmodell>

Nadir: "Es gibt keine richtige Nutzung im falschen Facebook" aus: Phase 2. Zeitschrift gegen die Realität. Nr. 46, Herbst 2013. phase-zwei.org
<http://www.nadir.org/news/interview.html>

<http://www.leuphana.de/martin-warnke.html>

<http://projekte.free.de/anarchismus-und-internet/>