--- format: markdown title: Facebook-Kritik ... # Das Informationstausch-Modell Das kommerzielle Informationstausch-Modell hat schwache Vorläufer im Adresshandel der Telekommunikationsunternehmen oder bei den Veranstaltern von Gewinnspielen, aber zum ganz großen Geschäft gerät es erst im Internet, denn hier fließen Informationen nicht nur, sondern können auch gewinnbringend verarbeitet werden, vor allem, um dem Werbemodell zuzuspielen. Nehmen wir Facebook als prominentes Beispiel. Der Beitritt zum sozialen Netzwerk ist kostenlos, die Firma bietet "Community as Commodity" [77], Gemeinschaft, und zwar als Ware. Die Gegenleistung des Tauschhandels besteht seitens der Kundschaft aus der Preisgabe persönlicher Informationen, die in der Gemeinschaft als gewollt, ja geradezu exhibitionistisch-lustvoll erlebt wird. Facebook greift zu jeder Finte, die Adressbücher der Teilnehmenden auszulesen und sich anzueignen, um die Bekanntschaftsnetze auszukundschaften. Selbst das Ausscheiden aus dem Service ist faktisch unmöglich, die Daten bleiben weiterhin gespeichert. Das Erlösmodell basiert vollständig auf dem Netzwerkgedanken, Facebook-Gründer Mark Zuckerberg hat sehr genau verstanden, welcher Zusatznutzen aus der Netzanalyse zu ziehen ist. Was seine Firma tut, liest sich wie ein Strafttatbestandskatalog des Verstoßes gegen den Datenschutz, denn alles, was den Kämpferinnen und Kämpfern für die informationelle Selbstbestimmung schützenswert erschien, ist auch Facebook wert und teuer, und zwar buchstäblich. Der Datenschutz aus den 1970er Jahren ist von solchen Entwicklungen völlig überrannt worden. Was die Leute damals auf die Straßen und zum Aufstand gegen den Staat trieb, gibt man einer Firma nunmehr freiwillig. So raffiniert ist wohl noch keine Protestbewegung rechts überholt worden. Facebook erklärt seinen Geschäftskunden, die eigene Applikationen in Facebook einbauen wollen, sehr genau, wie man mit den Daten der sozialen Netze Geschäfte machen kann, an denen die Mutterfirma dann natürlich partizipiert. Zur Haupteinnahmequelle Werbung spricht Facebook sehr offen: "Wir hatten bei Facebook Erfolg damit, unseren Nutzern gezielte Werbung auf Grundlage der Informationen anzubieten, die wir über sie haben." Persönliche Daten werden getauscht gegen die Zielpassung von Werbung. [77] David Kreps, Community as Commodity (2008). "[...] there is growing evidence that SNS [social networking sites] and MUVE [multi-user virtual environments] are actually part of a hegemonic transnational agenda of conservative venture capital which reinforces hierarchies of consumption." *Quelle: Das Informationstausch-Modell, S. 133f., M. Warnke, ISBN 978-3-88506-679-8, * # Widerstand war zwecklos *von Hans-Christian Espérer * 2082 - Die Journalistin Erica Bayer im Gespräch mit dem Widerstandskämpfer Marcel Salzberg anläßlich der vor dreißig Jahren abgeschafften »Datenkoppel« und dem damit verbundenen Zusammenbruch des Internets. ? Herr Salzberg, Sie sind einer der wenigen Zeitzeugen. Ein Glück für uns, denn man hat ja damals alle Festplatten formatiert, alle Flash-Drives vernichtet. ! Die Daten wurden vernichtet, ja. Man hatte Angst vor Viren, die später wieder hervortreten könnten, wenn man den alten Kram einer Untersuchung unterzieht. Das ist zumindest einer der Gründe. ? Erinnern Sie sich noch an die Anfänge der Datenkoppel? ! Ja, klar. Ich war ja damals in den besten Jahren, nicht? Also ich hatte ja schon früh angefangen, am "Komputer" zu hocken, so sagte man damals, das war so 1993 rum. Da war der Computer noch gleichberechtigt mit anderen Haushaltsgeräten, bis die Technik dann immer kleiner wurde. Die Datenkoppel kam recht spät. Ich glaube, so um 2011 rum. Vorher gab es diverse andere soziale Netzwerke - so nannte man sowas -, bis man dann irgendwann beschloß, in der "Koppel" alle zu vereinen. ? Warum? ! Warum man diese Netzwerke schuf? Ich weiß es nicht genau. Meine Vermutung ist, daß dieser ganze Netzwerkkram von Geeks und Hackern begonnen wurde, die einen echten Mehrwert für die Gesellschaft schaffen wollten, die den Leuten langweilige Arbeit abnehmen wollten. Diese Leute meinten es gut, aber sie merkten nicht, daß sie in Wahrheit unermüdlich daran arbeiteten, Werkzeuge für einen Diktator bereitzulegen. Wenn ich an dieser Stelle mal Paul Denton zitieren darf. Warum man dann die Koppel ins Leben rief? Die anderen Netzwerke hatten Probleme, da kam halt wieder jemand und behauptete, alles besser machen zu wollen. Und die Leute waren es inzwischen gewohnt, alle halbe Jahre in ein neues Netzwerk umzuziehen. ? Wer steckte denn hinter der »Datenkoppel«? War das ein Unternehmen oder eine Einzelperson? ! Es gab eine Person, die nannte sich »Der Protektor«. Ihren richtigen Namen erfuhren wir nie. Ebensowenig wußten wir, ob das Ganze ein Marketinggag war oder ob es diese Person wirklich gab und welche Rolle sie spielte. ? Ist das nicht eine große Ironie, daß der vermeintliche Besitzer der Koppel pseudonym auftrat? ! Ach was. Was sagen denn schon Namen? Die sagen fast genausowenig wie ein Geburtsdatum. ? Aber gerade letzteres wurde doch bei der Anmeldung immer verlangt? Warum denn, wenn es so nichtssagend ist? ! Warum verbeugt man sich vor einem König? Es ist ein Ritual. Allen Beteiligten wird klargemacht, wer hier das Sagen hat. Das geschah bei Koppel-Nutzern schon bei der Registrierung. Viele Leute glaubten, Widerstand zu leisten, indem sie ein falsches Geburtsdatum angaben. Wie sehr diese irrten. Daß diese Leute überhaupt etwas dort angaben, das war das Problem. Das Geburtsdatum konnte die Koppel sowieso deduzieren. Aber warum soll eine Firma mein Geburtsdatum wissen? Wenn ich es ihr ohne plausiblen Grund nenne, habe ich mich schon unterworfen. Nicht auch - sondern erst recht, wenn ich ein falsches Geburtsdatum angebe. ? Sie fingen damals an, die Leute zu warnen. ! Das ist richtig. Aber immer weniger Leute wollten mir zuhören. Ich glaube, viele, die einst den Staat für laxen Datenschutz kritisiert hatten, suchten nur Aufmerksamkeit, fühlten sich von der Gesellschaft nicht ernstgenommen. Als der Staat sie dann beachtete und als Firmen anfingen, benutzerfreundliche Software zu schreiben, die ihnen einen Mehrwert brachte, verstummten viele ehemals Kritische erstaunlich schnell. Zum Teil schlug die Stimmung sogar ins Gegenteil um. Und die wenigen, die noch aktiv waren, von denen forderten viele einfach nur mehr Datenschutz... ? Der Datenschutz ist Ihnen nicht wichtig? ! Doch, doch. Aber das Wort hat für mich mit der Zeit einen ganz negativen Beigeschmack bekommen. Der Datenschutz wurde oft als Ablenkung genutzt. Viele Leute konnten das Gewicht ihrer Daten gar nicht einschätzen. Und dann gab es immer diese schrecklichen Beispiele. Ohne Datenschutz würde man mehr Kleinkriminelle erwischen, zum Beispiel. Das war eine Argumentation der Datenschutzbefürworter, wohlgemerkt. Das müssen Sie sich einmal vorstellen. Und dann kam immer das "Totschlagargument" der personalisierten Werbung. Lassen Sie mich Ihnen eine persönliche Frage stellen: Würde es Sie stören, wenn Sie statt »normaler« personalisierte Werbung bekämen? ? Also, ich glaube, Werbung würde mich so oder so stören. Zumindest in dieser aufdringlichen Form zu Beginn des 21. Jahrhunderts. ! Präzise. Für mich ist beides - nichtpersonalisierte wie personalisierte Werbung - gleichermaßen verachtenswert. Aber die personalisierte Werbung war für viele das Hauptargument gegen »soziale Netzwerke«, nicht nur gegen die Koppel. Und, naja, viele wollten Datenschutz, aber dachten unbewußt bei sich, mehr als personalisierte Werbung kann mir nicht passieren, und das ist ja eigentlich nicht schlimm. Deshalb war der Widerstand sehr schnell gebrochen. ? Und die Angst, sich mit seinen Daten völlig nackig zu machen? ! Naja, ignorance is bliss, Sie wissen schon. Und die Fantasie vieler reichte auch einfach nicht weit. Und dann war ja da dieses Ohnmachtsgefühl. Und, während immer mehr Leute glaubten, der Datenschutz sei das einzige Problem: Sie ignorierten dieses Problem gerne. Aber es gab ja noch viel größere Gefahren. Damals ging zum Beispiel der Trend mit der Zeitplanung los. Wenn Sie abends Lust auf ein Tennisspiel verspürten, sagten Sie nur der Koppel Bescheid. Die Koppel wußte um Ihre Finanzen. Sie suchte einen Tennisplatz heraus, den Sie sich leisten konnten. Die Koppel wußte, ob Sie ein Auto besaßen. Falls nicht, stellte sie sicher, daß der Tennisplatz per ÖPNV erreichbar war. Die Koppel wußte, welche Ihrer Freunde ebenfalls Tennis spielten. Die Koppel lud diejenigen Freunde ein, die Ihnen ebenbürtige Gegner sein würden. So wurde der Spielspaß maximiert. Fast keiner sah da ein Problem. ? Das klingt ja auch nicht nach einem Problem. Das klingt nach einem echten Mehrwert. ! Ein riesengroßer Mehrwert! Nur den Preis, den sahen viele nicht. Der Preis war, daß alle sozialen Ereignisse plötzlich von einem nebulösen Unternehmen zentral gesteuert wurden! Auf der ganzen Erde! Und was glauben Sie, wenn einer vom Netzwerk bestraft werden sollte, dann wurde er einfach nicht mehr eingeladen. Und durfte auch nicht mehr einladen. Und die Leute waren genervt, wenn man sie »manuell« einlud, weil das dann nicht in ihren Koppel-Kalendern berücksichtigt war. Plötzlich hatte man nicht nur Angst, gegen die mehr oder weniger demokratisch legitimierten Gesetze des eigenen Landes zu verstoßen. Noch größere Angst hatte man aber davor, gegen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen einer Firma zu verstoßen, denn dies hätte im Extremfall zur kompletten Vereinsamung führen können. ? Und traf das viele Leute? ! Immer mehr. Auch offizielle Veranstaltungen wurden immer öfter über die Koppel organisiert. Irgendwann konnte man in seinen Koppel-Kalender keine »normalen« Events mehr eintragen - dadurch zwang die Koppel einen, alles, was man im Koppel-Kalender haben wollte, über diese Plattform zu organisieren. Viele Handys unterstützten nur noch den KoppelKalender. Wer also sein Handy zur Terminplanung nutzen wollte, mußte dies oftmals zwangsläufig komplett über die Koppel machen. ? Gab es keine Leute, die sich trotz alldem noch »manuell« verabredet haben? ! Sicher, einige Zeit schon. ? Das hat doch die Koppel sicher gestört, wenn sie so machtbesessen war, wie Sie behaupten. ! Naja, das waren ja wenige. Und die galten auch als wahnsinnig rückschrittlich. Man ist ihnen oft mit großer Aggression begegnet. Ich erinnere mich noch an einen Bekannten, den ich mal im Zug kennenlernte - Kalle hieß er, glaube ich -, der hat mich einen Lügner genannt, als ich ihm sagte, ich habe keinen Koppel-Account. Verstehen Sie, der hat geglaubt, ich hätte Angst vor ihm oder wolle seine Freundschaft nicht. Weil es in sein Weltbild nicht paßte, keinen Koppel-Account zu haben. ? Hat denn die Koppel überhaupt auf die »Manuellen« reagiert? ! Die Koppel hat nicht direkt darauf reagiert. Man hat nur irgendwann die sogenannten »freiwilligen Hausarreste« eingeführt. ? Was war das? ! Man konnte mit seinem Handy über Bilderkennung Leute »scannen«. Man sah dann, ob sich jemand unter Hausarrest befand. Die Koppel hatte irgendwann eine Funktion, die nannte sich »I Hate«. Wenn fünfzig Leute eine Person »hateten«, so nannte man das, dann stellte die Koppel diese gehatete Person für eine Woche unter Hausarrest. ? Diese Hausarreste konnte man doch aber getrost ignorieren. ! (lacht) Na klar, von Gesetzes wegen. Aber viele akzeptierten das. Unterschätzen Sie niemals die gesellschaftlichen Zwänge. Der Druck, sich einem Koppel-Hausarrest zu fügen, wuchs und wuchs; diese Realität kann man sich mit normaler Fantasie kaum vorstellen. Man wurde an vielen Orten nicht mehr toleriert, wenn das Handy des Gegenübers anzeigte, daß man unter Koppel-Hausarrest stand. Aus den fünfzig notwendigen »Hatern« wurden irgendwann zehn, später fünf. Und dann hat die Koppel natürlich auch nach eigenem Gutdünken Leute unter Hausarrest gestellt. ? Hatte man keine Angst vor Willkür? (lacht verächtlich) Ach was! Das wurde den Leuten als demokratische Errungenschaft verkauft! Endlich kein abgeschlossenes Jura-Studium mehr brauchen, um über jemanden zu richten. Das fanden viele toll - gelebte Demokratie! Mit dem Handy... ? Aber waren die Leute nicht auch genervt von der ständigen Reizüberflutung? Von dem ständig »Auf-Empfang-Sein-Müssen«? ! Schon, aber die Koppel bemühte sich, die Reizüberflutung zu minimieren. Freilich wollte man die Menschen aber auch zu einem ständigen Multitasking und Bereit-Sein umerziehen. ? Gab es keine Möglichkeiten, sich dem zu entziehen? ! Viele wollten es gar nicht. Sie glauben ja gar nicht - viele Menschen hatten ständig Angst, ihnen entgehe etwas wichtiges, vielleicht eine Liebschaft - was passierte, wenn sie mal für eine Stunde nicht erreichbar waren. Und es gab ja auch immer weniger Gründe, nicht online zu sein. Am Arbeitsplatz war das Handy erlaubt, auch an der Uni. In der Freizeit sowieso. ? Wie war das im Kino? ! Die wenigen Kinos, die es noch gab, wurden überwiegend von Leuten genutzt, die sich keine eigenen Projektoren leisten konnten oder deren Wohnung zu klein war, um eine ausreichend große Leinwand aufzunehmen; es war im modernen Kino selbstverständlich, sein Handy niemals aus- oder stummzuschalten. Die Filme, die in den Kinos liefen, waren seichter Natur, so daß es niemanden störte, wenn ständig was los war, wenn Koppel-Nachrichten eintrafen oder gar jemand während des Films telefonierte. Im Gegenteil. Die Filme wurden später sogar gezielt darauf ausgelegt. Leute, die sich einen Projektor leisten konnten, sahen Filme im kleineren Kreis zu Hause - da hatte man ja auch mehr Auswahl an Filmen. Die Koppel-Nachrichten wurden da direkt über den Beamer eingeblendet. Ach ja, die Kinobetreiber erlebten eine Renaissance, waren mit die angesehensten Institutionen der Stadt. An ihnen war das Versprechen wirklich wahr geworden, daß die Technologie sie in den Wohlstand führen würde. Sie mußten gar nichts tun: Die Filme wurden automatisch ausgewählt, automatisch geliefert - die Publikumsplanung übernahm die Koppel. Die Wartung der Technik erfolgte ebenso automatisch. Kinobetreiber mußten einfach nur da sein; aus formalen Gründen mußte es halt einen Besitzer geben. Wie wurden die Kinobetreiber beneidet - sie waren zu meiner Zeit angesehener als so mancher Intendant. ? Apropos Intendant... wie sah es denn in der Oper aus? ! Kommen Sie mir bloß nicht mit der Oper! Das war ja noch viel schlimmer als im Kino; grauenhaft, wenn ich dran denke. Manche Leute wollten ja, um wenigstens einen Grund zu haben, die Handys mal für ein paar Stunden auszuschalten, die Pausen abschaffen... ? Lassen Sie mich raten: Man hat stattdessen mehr Pausen eingeführt? ! Nein, man ist immer sehr subtil vorgegangen. In diesem Fall manipulierte man die Partituren, man strich einzelne Noten, die durch Handyklingeln ersetzt wurden. Man kooperierte mit den großen Handyfirmen. Die entwickelten dann Handy-Jammer, mit denen man Koppel-Mitteilungen aufs Handy zu einer ganz bestimmten Zeit durchlassen konnte. Noch nicht versandte Mitteilungen von Koppelfreunden wurden dann an den richtigen Musikstellen zugestellt - mit speziellen Klingeltönen. Die Noten wurden also durch Handyklingeln erstetzt - die Oper klang nur gut, wenn das Publikum viele Koppel-Freunde hatte. Die Älteren und die weniger Handybegeisterten wurden so immer mehr aus den Spielstätten verdrängt. Die Koppelfreundlosen, die saßen einfach nur da, und nach einer gelungenen Kadenz - da klingelte ihr Handy nicht! Wie peinlich! - das können Sie sich gar nicht vorstellen. ? Und ich dachte immer, Handys seien im Theater verboten. ! Das änderte man einfach über Nacht - die Theater müßten modern werden, hieß es. Und die Orchestermusiker bekamen ja nichts davon mit. Ihre Noten bezogen sie ausnahmslos von einer kleinen Werbefirma über das Internet - kostenlos, versteht sich. Man bezahlte mit seinen Daten, glaubte man. Obwohl man nicht so recht wußte, was das hieß. Aber man bezahlte mit noch mehr: Es fiel gar nicht auf, wenn man einzelne Noten strich, denn die Originale hatte man ja nie gesehen. Und die Musiker merkten hinterher nur, daß es trotz Handyklingeln irgendwie immer noch gut klang. Nur die Inspizienten mußten eingeweiht werden, aber die waren aufgrund ihrer finanziellen Situation meist nicht in der Lage, sich zur Wehr zu setzen, wenn sie das Problem erkannten. Ach ja, zeitgenössische Komponisten wie Sallinen oder Charles wurden nicht mehr gespielt, denn bei deren teils sehr atonaler Musik funktionierten diese Handy-Spielchen nicht, weil das durchschnittliche Publikum dort kleine Diskrepanzen so gut wie nicht bemerkte. ? Haben die Leute, die keine Handys hatten, nicht verärgert reagiert und protestiert? ! Öffentliche Versammlungen waren ja nur noch auf der Koppel - nicht mehr per se unter freiem Himmel erlaubt. Man kam nicht dazu, zu protestieren oder einen Protest zu organisieren. ? Wie hat man denn Versammlungen in der Öffentlichkeit aufgelöst? Die Polizei hatte man ja auf ein Minimum unqualifizierter Betrunkener zusammengeschrumpft. ! Die Zeiten meiner Großeltern - die der Polizeigewalt und der Wasserwerfer - die waren endgültig vorbei. Wobei die Alternative auch nicht viel subtiler war, muß ich sagen. Wie Sie wissen hat die Koppel auch Daten über den Gesundheitszustand ihrer Mitglieder gehabt. Und plante unter anderem die Jogging-Routen und Zeitpläne. Wenn also eine Versammlung aufgelöst werden sollte, ließ die Koppel einfach viele Jogger in die Gegend joggen. Dort angekommen, bekamen die dann alle viele Nachrichten oder Anrufe und sprachen laut in ihre Handys. Ein normaler Mensch konnte sich unter diesen Bedingungen gar nicht mehr vernünftig unterhalten. Nein, Versammlungen unter freiem Himmel gab es keine mehr. ? Wirklich subtil war das ja nun wahrlich nicht. ! Das nicht, aber den Widersacher zu erkennen, das war schwer. Wenn viele Leute um Sie in ihr Handy blöken - sehen Sie das gleich als Verschwörung gegen Sie? Man würde Ihnen ein Aufmerksamkeitsdefizit bescheinigen, aber Sie nicht ernstnehmen. Den Feind sah man damals gar nicht mehr. ? Wie war das in den Discos? Wurde die Musik regelmäßig runtergeregelt, damit man telefonieren konnte? ! Nein, in den Discos wurde tatsächlich nicht telefoniert. ? Man hatte also seine Ruhe dort? ! Vom Handy? Nein. Es gab ja die Koppel-Nachrichten. Die bekam man auch dort. Es war üblich, beim Tanzen oder beim Flirten ab und zu die Nachrichten zu lesen. Viele Discos sendeten Funksignale, die die Handys automatisch auf Vibrationsalarm stellten. ? Und die Leute akzeptierten das? Dann gab es doch für den typischen Disco-Besucher gar keinen Grund, eine Revolution zu starten, oder? ! (lacht) Nein, das nicht. Aber die Aufstände gingen tatsächlich von den Diskotheken aus. ? Wie sah denn die Koppel auf dem Höhepunkt ihrer Macht aus? ! Tja, es ist gar nicht ganz einfach zu sagen, wann genau dieser Höhepunkt erreicht war. Aber ziemlich nahe da dran war der Tag, wo sich ein Mitarbeiter der »Datenkoppel« ein Palais bauen lassen wollte. Er hatte zweifelsohne viel Geld, aber er brauchte keines für den Bau. ? Wie schaffte er das? Bei der Koppel wurden die Fähigkeiten der Mitglieder quantitativ bewertet - besagter Mitarbeiter versprach einfach, daß er jeden, der sich am Schloßbau beteiligte, durch eine Aufwertung seiner Fähigkeitseinschätzungen belohnen würde. Wenn man je einen Sinn im Leben gefunden hatte, dann war das zu dieser Zeit. Jeder lebte in der Hoffnung, irgendwann einhundert Prozent zu erreichen. Da baute man natürlich nur zu bereitwillig an einem Prunkschloß mit, um ein paar Prozente höher zu kommen. ? Das Schloß wurde fertig? ! Ja, in kürzester Zeit. ? Das war der Höhepunkt der Macht der Koppel? ! Ja, zumindest der gut sichtbare Teil. Die Koppel kontrollierte auch die Gedanken vieler Leute. ? Wie kann man sich denn das vorstellen? Das klingt ja schon sehr erschreckend für mich. ! Klingt es erschreckend für Sie, ein Tagebuch zu führen? Natürlich nicht. Blöd nur, wenn es jemand findet. Blöder noch, wenn es jemand manipuliert. Die Koppel war freilich viel einfacher zu benutzen als ein Tagebuch, deshalb lagerte man auch viel größere Teile seines Gehirns darin aus. Einige Koppel-Protestgruppen organisierten sich tatsächlich über die Koppel selbst. Man änderte dann einfach ihre Einträge, jeder glaubte den Ort des Protestes an einer anderen Stelle. So fand man nicht zusammen. Einigen redete man sogar ein, sie wollten für die Koppel demonstrieren. Und sie glaubten das. ? Irgendwann gab es aber dann doch Proteste - und die Macht der Koppel brach. Wie kam es dazu? ! Durch Zufall. Das fing in den Discos an... ? Sie sagten doch vorhin, der durchschnittliche Disco-Besucher sei nicht wirklich genervt gewesen von der Alltagssituation. Wie paßt das jetzt mit den Aufständen zusammen? ! Es hing an den Türstehern. Es gab ja irgendwann diese Türsteher-App fürs Handy. Wenn ein Türsteher sich nicht danach richtete, gab's Ärger. Und das gefiel den Türstehern gar nicht. Die hatten nämlich ihre eigenen Heuristiken, um zu entscheiden, wen sie in ihres Hausherrn Gebiet einließen und wen nicht. Daß ihnen nun jemand Fremdes vorschrieb, wen sie einlassen sollten, paßte ihnen gar nicht. Sie fühlten sich degradiert. Es war ein bekannter Türsteher, der schließlich die ganze Sache mit den »sozialen Netzwerken« satt hatte. Er ließ dann nur noch Leute ohne Koppel-Account in seine Disco. Von ihm ließen sich viele Kollegen inspirieren. Von da war es dann nicht mehr weit zur Revolution... ? Das war das Ende der »Ära Internet«? ! Ach ja, wenn meine Fantasie doch nur ausreichen würde, diese Frage zu beantworten. Ich weiß ja noch nicht mal, ob es tatsächlich zur Revolution kam - genauer: kommen wird. Ich danke Ihnen auf jeden Fall für dieses Gespräch. Meine Gedanken soweit spinnen zu dürfen, hat mich jedenfalls für eine kleine Weile abgelenkt. Abgelenkt von der Realität. Denn ich fürchte, wir sind nicht am Ende einer großen Unterdrückung, sondern wir stehen ganz am Anfang. *Quelle: die datenschleuder #95 / 2011, S. 43-48 * # Links Wikipedia: Nadir: "Es gibt keine richtige Nutzung im falschen Facebook" aus: Phase 2. Zeitschrift gegen die Realität. Nr. 46, Herbst 2013. phase-zwei.org