Facebook-Kritik.page 22 KB

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  2. format: markdown
  3. title: Facebook-Kritik
  4. ...
  5. # Das Informationstausch-Modell
  6. Das kommerzielle Informationstausch-Modell hat schwache Vorläufer im
  7. Adresshandel der Telekommunikationsunternehmen oder bei den Veranstaltern
  8. von Gewinnspielen, aber zum ganz großen Geschäft gerät es erst im
  9. Internet, denn hier fließen Informationen nicht nur, sondern können auch
  10. gewinnbringend verarbeitet werden, vor allem, um dem Werbemodell
  11. zuzuspielen.
  12. Nehmen wir Facebook als prominentes Beispiel. Der Beitritt zum sozialen
  13. Netzwerk ist kostenlos, die Firma bietet "Community as Commodity" [77],
  14. Gemeinschaft, und zwar als Ware. Die Gegenleistung des Tauschhandels
  15. besteht seitens der Kundschaft aus der Preisgabe persönlicher
  16. Informationen, die in der Gemeinschaft als gewollt, ja geradezu
  17. exhibitionistisch-lustvoll erlebt wird.
  18. Facebook greift zu jeder Finte, die Adressbücher der Teilnehmenden
  19. auszulesen und sich anzueignen, um die Bekanntschaftsnetze
  20. auszukundschaften. Selbst das Ausscheiden aus dem Service ist faktisch
  21. unmöglich, die Daten bleiben weiterhin gespeichert. Das Erlösmodell
  22. basiert vollständig auf dem Netzwerkgedanken, Facebook-Gründer Mark
  23. Zuckerberg hat sehr genau verstanden, welcher Zusatznutzen aus der
  24. Netzanalyse zu ziehen ist.
  25. Was seine Firma tut, liest sich wie ein Strafttatbestandskatalog des
  26. Verstoßes gegen den Datenschutz, denn alles, was den Kämpferinnen und
  27. Kämpfern für die informationelle Selbstbestimmung schützenswert erschien,
  28. ist auch Facebook wert und teuer, und zwar buchstäblich. Der Datenschutz
  29. aus den 1970er Jahren ist von solchen Entwicklungen völlig überrannt
  30. worden.
  31. Was die Leute damals auf die Straßen und zum Aufstand gegen den Staat
  32. trieb, gibt man einer Firma nunmehr freiwillig. So raffiniert ist wohl
  33. noch keine Protestbewegung rechts überholt worden.
  34. Facebook erklärt seinen Geschäftskunden, die eigene Applikationen in
  35. Facebook einbauen wollen, sehr genau, wie man mit den Daten der sozialen
  36. Netze Geschäfte machen kann, an denen die Mutterfirma dann natürlich
  37. partizipiert. Zur Haupteinnahmequelle Werbung spricht Facebook sehr offen:
  38. "Wir hatten bei Facebook Erfolg damit, unseren Nutzern gezielte Werbung
  39. auf Grundlage der Informationen anzubieten, die wir über sie haben."
  40. Persönliche Daten werden getauscht gegen die Zielpassung von Werbung.
  41. [77] David Kreps, Community as Commodity (2008).
  42. <http://www.kreps.org/papers/communityascommodity_ifip95final.pdf>
  43. "[...] there is growing evidence that SNS [social networking sites]
  44. and MUVE [multi-user virtual environments] are actually part of a
  45. hegemonic transnational agenda of conservative venture capital which
  46. reinforces hierarchies of consumption."
  47. *Quelle: Das Informationstausch-Modell, S. 133f., M. Warnke, ISBN 978-3-88506-679-8, <http://www.junius-verlag.de/>*
  48. # Widerstand war zwecklos
  49. *von Hans-Christian Espérer <hc |ätt| hcesperer.org>*
  50. 2082 - Die Journalistin Erica Bayer im Gespräch mit dem
  51. Widerstandskämpfer Marcel Salzberg anläßlich der vor dreißig Jahren
  52. abgeschafften »Datenkoppel« und dem damit verbundenen Zusammenbruch des
  53. Internets.
  54. ? Herr Salzberg, Sie sind einer der wenigen Zeitzeugen. Ein Glück für
  55. uns, denn man hat ja damals alle Festplatten formatiert, alle
  56. Flash-Drives vernichtet.
  57. ! Die Daten wurden vernichtet, ja. Man hatte Angst vor Viren, die
  58. später wieder hervortreten könnten, wenn man den alten Kram einer
  59. Untersuchung unterzieht. Das ist zumindest einer der Gründe.
  60. ? Erinnern Sie sich noch an die Anfänge der Datenkoppel?
  61. ! Ja, klar. Ich war ja damals in den besten Jahren, nicht? Also ich
  62. hatte ja schon früh angefangen, am "Komputer" zu hocken, so sagte man
  63. damals, das war so 1993 rum. Da war der Computer noch gleichberechtigt
  64. mit anderen Haushaltsgeräten, bis die Technik dann immer kleiner wurde.
  65. Die Datenkoppel kam recht spät. Ich glaube, so um 2011 rum. Vorher gab
  66. es diverse andere soziale Netzwerke - so nannte man sowas -, bis man
  67. dann irgendwann beschloß, in der "Koppel" alle zu vereinen.
  68. ? Warum?
  69. ! Warum man diese Netzwerke schuf? Ich weiß es nicht genau. Meine
  70. Vermutung ist, daß dieser ganze Netzwerkkram von Geeks und Hackern
  71. begonnen wurde, die einen echten Mehrwert für die Gesellschaft schaffen
  72. wollten, die den Leuten langweilige Arbeit abnehmen wollten. Diese
  73. Leute meinten es gut, aber sie merkten nicht, daß sie in Wahrheit
  74. unermüdlich daran arbeiteten, Werkzeuge für einen Diktator
  75. bereitzulegen. Wenn ich an dieser Stelle mal Paul Denton zitieren darf.
  76. Warum man dann die Koppel ins Leben rief? Die anderen Netzwerke hatten
  77. Probleme, da kam halt wieder jemand und behauptete, alles besser machen
  78. zu wollen. Und die Leute waren es inzwischen gewohnt, alle halbe Jahre
  79. in ein neues Netzwerk umzuziehen.
  80. ? Wer steckte denn hinter der »Datenkoppel«? War das ein Unternehmen
  81. oder eine Einzelperson?
  82. ! Es gab eine Person, die nannte sich »Der Protektor«. Ihren richtigen
  83. Namen erfuhren wir nie. Ebensowenig wußten wir, ob das Ganze ein
  84. Marketinggag war oder ob es diese Person wirklich gab und welche Rolle
  85. sie spielte.
  86. ? Ist das nicht eine große Ironie, daß der vermeintliche Besitzer der
  87. Koppel pseudonym auftrat?
  88. ! Ach was. Was sagen denn schon Namen? Die sagen fast genausowenig wie
  89. ein Geburtsdatum.
  90. ? Aber gerade letzteres wurde doch bei der Anmeldung immer verlangt?
  91. Warum denn, wenn es so nichtssagend ist?
  92. ! Warum verbeugt man sich vor einem König? Es ist ein Ritual. Allen
  93. Beteiligten wird klargemacht, wer hier das Sagen hat. Das geschah bei
  94. Koppel-Nutzern schon bei der Registrierung. Viele Leute glaubten,
  95. Widerstand zu leisten, indem sie ein falsches Geburtsdatum angaben. Wie
  96. sehr diese irrten. Daß diese Leute überhaupt etwas dort angaben, das
  97. war das Problem. Das Geburtsdatum konnte die Koppel sowieso deduzieren.
  98. Aber warum soll eine Firma mein Geburtsdatum wissen? Wenn ich es ihr
  99. ohne plausiblen Grund nenne, habe ich mich schon unterworfen. Nicht
  100. auch - sondern erst recht, wenn ich ein falsches Geburtsdatum angebe.
  101. ? Sie fingen damals an, die Leute zu warnen.
  102. ! Das ist richtig. Aber immer weniger Leute wollten mir zuhören. Ich
  103. glaube, viele, die einst den Staat für laxen Datenschutz kritisiert
  104. hatten, suchten nur Aufmerksamkeit, fühlten sich von der Gesellschaft
  105. nicht ernstgenommen. Als der Staat sie dann beachtete und als Firmen
  106. anfingen, benutzerfreundliche Software zu schreiben, die ihnen einen
  107. Mehrwert brachte, verstummten viele ehemals Kritische erstaunlich
  108. schnell. Zum Teil schlug die Stimmung sogar ins Gegenteil um. Und die
  109. wenigen, die noch aktiv waren, von denen forderten viele einfach nur
  110. mehr Datenschutz...
  111. ? Der Datenschutz ist Ihnen nicht wichtig?
  112. ! Doch, doch. Aber das Wort hat für mich mit der Zeit einen ganz
  113. negativen Beigeschmack bekommen. Der Datenschutz wurde oft als
  114. Ablenkung genutzt. Viele Leute konnten das Gewicht ihrer Daten gar
  115. nicht einschätzen. Und dann gab es immer diese schrecklichen Beispiele.
  116. Ohne Datenschutz würde man mehr Kleinkriminelle erwischen, zum
  117. Beispiel. Das war eine Argumentation der Datenschutzbefürworter,
  118. wohlgemerkt. Das müssen Sie sich einmal vorstellen. Und dann kam immer
  119. das "Totschlagargument" der personalisierten Werbung. Lassen Sie mich
  120. Ihnen eine persönliche Frage stellen: Würde es Sie stören, wenn Sie
  121. statt »normaler« personalisierte Werbung bekämen?
  122. ? Also, ich glaube, Werbung würde mich so oder so stören. Zumindest in
  123. dieser aufdringlichen Form zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
  124. ! Präzise. Für mich ist beides - nichtpersonalisierte wie
  125. personalisierte Werbung - gleichermaßen verachtenswert. Aber die
  126. personalisierte Werbung war für viele das Hauptargument gegen »soziale
  127. Netzwerke«, nicht nur gegen die Koppel. Und, naja, viele wollten
  128. Datenschutz, aber dachten unbewußt bei sich, mehr als personalisierte
  129. Werbung kann mir nicht passieren, und das ist ja eigentlich nicht
  130. schlimm. Deshalb war der Widerstand sehr schnell gebrochen.
  131. ? Und die Angst, sich mit seinen Daten völlig nackig zu machen?
  132. ! Naja, ignorance is bliss, Sie wissen schon. Und die Fantasie vieler
  133. reichte auch einfach nicht weit. Und dann war ja da dieses
  134. Ohnmachtsgefühl. Und, während immer mehr Leute glaubten, der
  135. Datenschutz sei das einzige Problem: Sie ignorierten dieses Problem
  136. gerne. Aber es gab ja noch viel größere Gefahren. Damals ging zum
  137. Beispiel der Trend mit der Zeitplanung los. Wenn Sie abends Lust auf
  138. ein Tennisspiel verspürten, sagten Sie nur der Koppel Bescheid. Die
  139. Koppel wußte um Ihre Finanzen. Sie suchte einen Tennisplatz heraus, den
  140. Sie sich leisten konnten. Die Koppel wußte, ob Sie ein Auto besaßen.
  141. Falls nicht, stellte sie sicher, daß der Tennisplatz per ÖPNV
  142. erreichbar war. Die Koppel wußte, welche Ihrer Freunde ebenfalls Tennis
  143. spielten. Die Koppel lud diejenigen Freunde ein, die Ihnen ebenbürtige
  144. Gegner sein würden. So wurde der Spielspaß maximiert. Fast keiner sah
  145. da ein Problem.
  146. ? Das klingt ja auch nicht nach einem Problem. Das klingt nach einem
  147. echten Mehrwert.
  148. ! Ein riesengroßer Mehrwert! Nur den Preis, den sahen viele nicht. Der
  149. Preis war, daß alle sozialen Ereignisse plötzlich von einem nebulösen
  150. Unternehmen zentral gesteuert wurden! Auf der ganzen Erde! Und was
  151. glauben Sie, wenn einer vom Netzwerk bestraft werden sollte, dann wurde
  152. er einfach nicht mehr eingeladen. Und durfte auch nicht mehr einladen.
  153. Und die Leute waren genervt, wenn man sie »manuell« einlud, weil das
  154. dann nicht in ihren Koppel-Kalendern berücksichtigt war. Plötzlich
  155. hatte man nicht nur Angst, gegen die mehr oder weniger demokratisch
  156. legitimierten Gesetze des eigenen Landes zu verstoßen. Noch größere
  157. Angst hatte man aber davor, gegen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen
  158. einer Firma zu verstoßen, denn dies hätte im Extremfall zur kompletten
  159. Vereinsamung führen können.
  160. ? Und traf das viele Leute?
  161. ! Immer mehr. Auch offizielle Veranstaltungen wurden immer öfter über
  162. die Koppel organisiert. Irgendwann konnte man in seinen Koppel-Kalender
  163. keine »normalen« Events mehr eintragen - dadurch zwang die Koppel
  164. einen, alles, was man im Koppel-Kalender haben wollte, über diese
  165. Plattform zu organisieren. Viele Handys unterstützten nur noch den
  166. KoppelKalender. Wer also sein Handy zur Terminplanung nutzen wollte,
  167. mußte dies oftmals zwangsläufig komplett über die Koppel machen.
  168. ? Gab es keine Leute, die sich trotz alldem noch »manuell« verabredet
  169. haben?
  170. ! Sicher, einige Zeit schon.
  171. ? Das hat doch die Koppel sicher gestört, wenn sie so machtbesessen
  172. war, wie Sie behaupten.
  173. ! Naja, das waren ja wenige. Und die galten auch als wahnsinnig
  174. rückschrittlich. Man ist ihnen oft mit großer Aggression begegnet. Ich
  175. erinnere mich noch an einen Bekannten, den ich mal im Zug kennenlernte
  176. - Kalle hieß er, glaube ich -, der hat mich einen Lügner genannt, als
  177. ich ihm sagte, ich habe keinen Koppel-Account. Verstehen Sie, der hat
  178. geglaubt, ich hätte Angst vor ihm oder wolle seine Freundschaft nicht.
  179. Weil es in sein Weltbild nicht paßte, keinen Koppel-Account zu haben.
  180. ? Hat denn die Koppel überhaupt auf die »Manuellen« reagiert?
  181. ! Die Koppel hat nicht direkt darauf reagiert. Man hat nur irgendwann
  182. die sogenannten »freiwilligen Hausarreste« eingeführt.
  183. ? Was war das?
  184. ! Man konnte mit seinem Handy über Bilderkennung Leute »scannen«. Man
  185. sah dann, ob sich jemand unter Hausarrest befand. Die Koppel hatte
  186. irgendwann eine Funktion, die nannte sich »I Hate«. Wenn fünfzig Leute
  187. eine Person »hateten«, so nannte man das, dann stellte die Koppel diese
  188. gehatete Person für eine Woche unter Hausarrest.
  189. ? Diese Hausarreste konnte man doch aber getrost ignorieren.
  190. ! (lacht) Na klar, von Gesetzes wegen. Aber viele akzeptierten das.
  191. Unterschätzen Sie niemals die gesellschaftlichen Zwänge. Der Druck,
  192. sich einem Koppel-Hausarrest zu fügen, wuchs und wuchs; diese Realität
  193. kann man sich mit normaler Fantasie kaum vorstellen. Man wurde an
  194. vielen Orten nicht mehr toleriert, wenn das Handy des Gegenübers
  195. anzeigte, daß man unter Koppel-Hausarrest stand. Aus den fünfzig
  196. notwendigen »Hatern« wurden irgendwann zehn, später fünf. Und dann hat
  197. die Koppel natürlich auch nach eigenem Gutdünken Leute unter Hausarrest
  198. gestellt.
  199. ? Hatte man keine Angst vor Willkür?
  200. (lacht verächtlich) Ach was! Das wurde den Leuten als demokratische
  201. Errungenschaft verkauft! Endlich kein abgeschlossenes Jura-Studium mehr
  202. brauchen, um über jemanden zu richten. Das fanden viele toll - gelebte
  203. Demokratie! Mit dem Handy...
  204. ? Aber waren die Leute nicht auch genervt von der ständigen
  205. Reizüberflutung? Von dem ständig »Auf-Empfang-Sein-Müssen«?
  206. ! Schon, aber die Koppel bemühte sich, die Reizüberflutung zu
  207. minimieren. Freilich wollte man die Menschen aber auch zu einem
  208. ständigen Multitasking und Bereit-Sein umerziehen.
  209. ? Gab es keine Möglichkeiten, sich dem zu entziehen?
  210. ! Viele wollten es gar nicht. Sie glauben ja gar nicht - viele Menschen
  211. hatten ständig Angst, ihnen entgehe etwas wichtiges, vielleicht eine
  212. Liebschaft - was passierte, wenn sie mal für eine Stunde nicht
  213. erreichbar waren. Und es gab ja auch immer weniger Gründe, nicht online
  214. zu sein. Am Arbeitsplatz war das Handy erlaubt, auch an der Uni. In der
  215. Freizeit sowieso.
  216. ? Wie war das im Kino?
  217. ! Die wenigen Kinos, die es noch gab, wurden überwiegend von Leuten
  218. genutzt, die sich keine eigenen Projektoren leisten konnten oder deren
  219. Wohnung zu klein war, um eine ausreichend große Leinwand aufzunehmen;
  220. es war im modernen Kino selbstverständlich, sein Handy niemals aus-
  221. oder stummzuschalten. Die Filme, die in den Kinos liefen, waren
  222. seichter Natur, so daß es niemanden störte, wenn ständig was los war,
  223. wenn Koppel-Nachrichten eintrafen oder gar jemand während des Films
  224. telefonierte. Im Gegenteil. Die Filme wurden später sogar gezielt
  225. darauf ausgelegt.
  226. Leute, die sich einen Projektor leisten konnten, sahen Filme im
  227. kleineren Kreis zu Hause - da hatte man ja auch mehr Auswahl an Filmen.
  228. Die Koppel-Nachrichten wurden da direkt über den Beamer eingeblendet.
  229. Ach ja, die Kinobetreiber erlebten eine Renaissance, waren mit die
  230. angesehensten Institutionen der Stadt. An ihnen war das Versprechen
  231. wirklich wahr geworden, daß die Technologie sie in den Wohlstand führen
  232. würde. Sie mußten gar nichts tun: Die Filme wurden automatisch
  233. ausgewählt, automatisch geliefert - die Publikumsplanung übernahm die
  234. Koppel. Die Wartung der Technik erfolgte ebenso automatisch.
  235. Kinobetreiber mußten einfach nur da sein; aus formalen Gründen mußte es
  236. halt einen Besitzer geben. Wie wurden die Kinobetreiber beneidet - sie
  237. waren zu meiner Zeit angesehener als so mancher Intendant.
  238. ? Apropos Intendant... wie sah es denn in der Oper aus?
  239. ! Kommen Sie mir bloß nicht mit der Oper! Das war ja noch viel
  240. schlimmer als im Kino; grauenhaft, wenn ich dran denke. Manche Leute
  241. wollten ja, um wenigstens einen Grund zu haben, die Handys mal für ein
  242. paar Stunden auszuschalten, die Pausen abschaffen...
  243. ? Lassen Sie mich raten: Man hat stattdessen mehr Pausen eingeführt?
  244. ! Nein, man ist immer sehr subtil vorgegangen. In diesem Fall
  245. manipulierte man die Partituren, man strich einzelne Noten, die durch
  246. Handyklingeln ersetzt wurden. Man kooperierte mit den großen
  247. Handyfirmen. Die entwickelten dann Handy-Jammer, mit denen man
  248. Koppel-Mitteilungen aufs Handy zu einer ganz bestimmten Zeit
  249. durchlassen konnte. Noch nicht versandte Mitteilungen von
  250. Koppelfreunden wurden dann an den richtigen Musikstellen zugestellt -
  251. mit speziellen Klingeltönen. Die Noten wurden also durch Handyklingeln
  252. erstetzt - die Oper klang nur gut, wenn das Publikum viele
  253. Koppel-Freunde hatte. Die Älteren und die weniger Handybegeisterten
  254. wurden so immer mehr aus den Spielstätten verdrängt. Die
  255. Koppelfreundlosen, die saßen einfach nur da, und nach einer gelungenen
  256. Kadenz - da klingelte ihr Handy nicht! Wie peinlich! - das können Sie
  257. sich gar nicht vorstellen.
  258. ? Und ich dachte immer, Handys seien im Theater verboten.
  259. ! Das änderte man einfach über Nacht - die Theater müßten modern
  260. werden, hieß es. Und die Orchestermusiker bekamen ja nichts davon mit.
  261. Ihre Noten bezogen sie ausnahmslos von einer kleinen Werbefirma über
  262. das Internet - kostenlos, versteht sich. Man bezahlte mit seinen Daten,
  263. glaubte man. Obwohl man nicht so recht wußte, was das hieß. Aber man
  264. bezahlte mit noch mehr: Es fiel gar nicht auf, wenn man einzelne Noten
  265. strich, denn die Originale hatte man ja nie gesehen. Und die Musiker
  266. merkten hinterher nur, daß es trotz Handyklingeln irgendwie immer noch
  267. gut klang. Nur die Inspizienten mußten eingeweiht werden, aber die
  268. waren aufgrund ihrer finanziellen Situation meist nicht in der Lage,
  269. sich zur Wehr zu setzen, wenn sie das Problem erkannten. Ach ja,
  270. zeitgenössische Komponisten wie Sallinen oder Charles wurden nicht mehr
  271. gespielt, denn bei deren teils sehr atonaler Musik funktionierten diese
  272. Handy-Spielchen nicht, weil das durchschnittliche Publikum dort kleine
  273. Diskrepanzen so gut wie nicht bemerkte.
  274. ? Haben die Leute, die keine Handys hatten, nicht verärgert reagiert
  275. und protestiert?
  276. ! Öffentliche Versammlungen waren ja nur noch auf der Koppel - nicht
  277. mehr per se unter freiem Himmel erlaubt. Man kam nicht dazu, zu
  278. protestieren oder einen Protest zu organisieren.
  279. ? Wie hat man denn Versammlungen in der Öffentlichkeit aufgelöst? Die
  280. Polizei hatte man ja auf ein Minimum unqualifizierter Betrunkener
  281. zusammengeschrumpft.
  282. ! Die Zeiten meiner Großeltern - die der Polizeigewalt und der
  283. Wasserwerfer - die waren endgültig vorbei. Wobei die Alternative auch
  284. nicht viel subtiler war, muß ich sagen. Wie Sie wissen hat die Koppel
  285. auch Daten über den Gesundheitszustand ihrer Mitglieder gehabt. Und
  286. plante unter anderem die Jogging-Routen und Zeitpläne. Wenn also eine
  287. Versammlung aufgelöst werden sollte, ließ die Koppel einfach viele
  288. Jogger in die Gegend joggen. Dort angekommen, bekamen die dann alle
  289. viele Nachrichten oder Anrufe und sprachen laut in ihre Handys. Ein
  290. normaler Mensch konnte sich unter diesen Bedingungen gar nicht mehr
  291. vernünftig unterhalten. Nein, Versammlungen unter freiem Himmel gab es
  292. keine mehr.
  293. ? Wirklich subtil war das ja nun wahrlich nicht.
  294. ! Das nicht, aber den Widersacher zu erkennen, das war schwer. Wenn
  295. viele Leute um Sie in ihr Handy blöken - sehen Sie das gleich als
  296. Verschwörung gegen Sie? Man würde Ihnen ein Aufmerksamkeitsdefizit
  297. bescheinigen, aber Sie nicht ernstnehmen. Den Feind sah man damals gar
  298. nicht mehr.
  299. ? Wie war das in den Discos? Wurde die Musik regelmäßig runtergeregelt,
  300. damit man telefonieren konnte?
  301. ! Nein, in den Discos wurde tatsächlich nicht telefoniert.
  302. ? Man hatte also seine Ruhe dort?
  303. ! Vom Handy? Nein. Es gab ja die Koppel-Nachrichten. Die bekam man auch
  304. dort. Es war üblich, beim Tanzen oder beim Flirten ab und zu die
  305. Nachrichten zu lesen. Viele Discos sendeten Funksignale, die die Handys
  306. automatisch auf Vibrationsalarm stellten.
  307. ? Und die Leute akzeptierten das? Dann gab es doch für den typischen
  308. Disco-Besucher gar keinen Grund, eine Revolution zu starten, oder?
  309. ! (lacht) Nein, das nicht. Aber die Aufstände gingen tatsächlich von
  310. den Diskotheken aus.
  311. ? Wie sah denn die Koppel auf dem Höhepunkt ihrer Macht aus?
  312. ! Tja, es ist gar nicht ganz einfach zu sagen, wann genau dieser
  313. Höhepunkt erreicht war. Aber ziemlich nahe da dran war der Tag, wo sich
  314. ein Mitarbeiter der »Datenkoppel« ein Palais bauen lassen wollte. Er
  315. hatte zweifelsohne viel Geld, aber er brauchte keines für den Bau.
  316. ? Wie schaffte er das?
  317. Bei der Koppel wurden die Fähigkeiten der Mitglieder quantitativ
  318. bewertet - besagter Mitarbeiter versprach einfach, daß er jeden, der
  319. sich am Schloßbau beteiligte, durch eine Aufwertung seiner
  320. Fähigkeitseinschätzungen belohnen würde. Wenn man je einen Sinn im
  321. Leben gefunden hatte, dann war das zu dieser Zeit. Jeder lebte in der
  322. Hoffnung, irgendwann einhundert Prozent zu erreichen. Da baute man
  323. natürlich nur zu bereitwillig an einem Prunkschloß mit, um ein paar
  324. Prozente höher zu kommen.
  325. ? Das Schloß wurde fertig?
  326. ! Ja, in kürzester Zeit.
  327. ? Das war der Höhepunkt der Macht der Koppel?
  328. ! Ja, zumindest der gut sichtbare Teil. Die Koppel kontrollierte auch
  329. die Gedanken vieler Leute.
  330. ? Wie kann man sich denn das vorstellen? Das klingt ja schon sehr
  331. erschreckend für mich.
  332. ! Klingt es erschreckend für Sie, ein Tagebuch zu führen? Natürlich
  333. nicht. Blöd nur, wenn es jemand findet. Blöder noch, wenn es jemand
  334. manipuliert. Die Koppel war freilich viel einfacher zu benutzen als ein
  335. Tagebuch, deshalb lagerte man auch viel größere Teile seines Gehirns
  336. darin aus. Einige Koppel-Protestgruppen organisierten sich tatsächlich
  337. über die Koppel selbst. Man änderte dann einfach ihre Einträge, jeder
  338. glaubte den Ort des Protestes an einer anderen Stelle. So fand man
  339. nicht zusammen. Einigen redete man sogar ein, sie wollten für die
  340. Koppel demonstrieren. Und sie glaubten das.
  341. ? Irgendwann gab es aber dann doch Proteste - und die Macht der Koppel
  342. brach. Wie kam es dazu?
  343. ! Durch Zufall. Das fing in den Discos an...
  344. ? Sie sagten doch vorhin, der durchschnittliche Disco-Besucher sei
  345. nicht wirklich genervt gewesen von der Alltagssituation. Wie paßt das
  346. jetzt mit den Aufständen zusammen?
  347. ! Es hing an den Türstehern. Es gab ja irgendwann diese Türsteher-App
  348. fürs Handy. Wenn ein Türsteher sich nicht danach richtete, gab's Ärger.
  349. Und das gefiel den Türstehern gar nicht. Die hatten nämlich ihre
  350. eigenen Heuristiken, um zu entscheiden, wen sie in ihres Hausherrn
  351. Gebiet einließen und wen nicht. Daß ihnen nun jemand Fremdes
  352. vorschrieb, wen sie einlassen sollten, paßte ihnen gar nicht. Sie
  353. fühlten sich degradiert. Es war ein bekannter Türsteher, der
  354. schließlich die ganze Sache mit den »sozialen Netzwerken« satt hatte.
  355. Er ließ dann nur noch Leute ohne Koppel-Account in seine Disco. Von ihm
  356. ließen sich viele Kollegen inspirieren. Von da war es dann nicht mehr
  357. weit zur Revolution...
  358. ? Das war das Ende der »Ära Internet«?
  359. ! Ach ja, wenn meine Fantasie doch nur ausreichen würde, diese Frage zu
  360. beantworten. Ich weiß ja noch nicht mal, ob es tatsächlich zur
  361. Revolution kam - genauer: kommen wird. Ich danke Ihnen auf jeden Fall
  362. für dieses Gespräch. Meine Gedanken soweit spinnen zu dürfen, hat mich
  363. jedenfalls für eine kleine Weile abgelenkt. Abgelenkt von der Realität.
  364. Denn ich fürchte, wir sind nicht am Ende einer großen Unterdrückung,
  365. sondern wir stehen ganz am Anfang.
  366. *Quelle: die datenschleuder #95 / 2011, S. 43-48 <http://ds.ccc.de/pdfs/ds095.pdf>*
  367. # Links
  368. Wikipedia: <http://de.wikipedia.org/wiki/Facebook#Gesch.C3.A4ftsmodell>
  369. Nadir: "Es gibt keine richtige Nutzung im falschen Facebook" aus: Phase 2. Zeitschrift gegen die Realität. Nr. 46, Herbst 2013. phase-zwei.org
  370. <http://www.nadir.org/news/interview.html>
  371. <http://www.leuphana.de/martin-warnke.html>
  372. <http://projekte.free.de/anarchismus-und-internet/>